Brunetti 02 - Endstation Venedig
obwohl der Verfasser des Artikels, ganz nach Art des Gazzettino, sich nicht die Mühe machte, Genaueres über die Art des Spiels zu sagen. Brunetti dachte manchmal, welch ein Glück es doch für Italien war, daß eine verantwortungsvolle Presse nicht zu den Voraussetzungen für den Beitritt zum Gemeinsamen Markt gehörte.
Im Flur der Questura hatte sich die übliche Menschenschlange vor dem Ufficio Stranieri gebildet, mit vielen schlecht gekleideten und armselig beschuhten Emigranten aus Nordafrika und dem frisch befreiten Osteuropa. Brunetti betrachtete diese Schlange nie, ohne sich einer gewissen historischen Ironie bewußt zu sein: Drei Generationen seiner eigenen Familie waren aus Italien geflohen oder hatten es verlassen, um ihr Glück in so weit entfernten Ländern wie Australien oder Argentinien zu suchen. Und in einem durch die Ereignisse der letzten Jahre verwandelten Europa war nun Italien das Eldorado neuer Wellen noch ärmerer, noch dunkelhäutigerer Emigranten. Viele seiner Freunde sprachen von diesen Menschen mit Verachtung, Abscheu, sogar Wut, aber Brunetti sah in ihnen immer auch seine eigenen Vorfahren, wie sie in ähnlichen Schlangen gestanden hatten, auch sie schlecht gekleidet, miserabel beschuht und kaum der Sprache mächtig. Dabei bereit, jedem den Dreck wegzuputzen und die Kinder großzuziehen, der sie dafür bezahlte - genau wie diese armen Teufel hier.
Er ging die Treppen zu seinem Büro im vierten Stock hinauf und begrüßte dabei ein oder zwei Leute mit einem Guten Morgen, andere mit einem Nicken. Im Büro angelangt, sah er nach, ob irgendwelche neuen Papiere auf seinem Schreibtisch lagen. Es war noch nichts gekommen, also fühlte er sich frei, mit dem Tag anzufangen, was er für richtig hielt. Und das war, nach dem Telefon zu greifen und sich mit der Carabinieristation auf dem amerikanischen Stützpunkt in Vicenza verbinden zu lassen.
Wie sich herausstellte, war diese Nummer erheblich einfacher herauszufinden als die des Stützpunkts, und innerhalb weniger Minuten sprach er mit Maggior Ambrogiani, der Brunetti informierte, daß ihm der italienische Teil der Untersuchung von Fosters Tod übertragen worden sei. Ambrogianis tiefe Stimme hatte diesen melodiösen Singsang, dem Brunetti entnahm, daß der Maggiore aus dem Veneto stammte, wenn auch nicht aus Venedig.
»Italienischer Teil?« fragte Brunetti.
»Nun ja, soweit er sich von den Ermittlungen unterscheidet, die von den Amerikanern selbst durchgeführt werden.«
»Heißt das, es gibt Probleme wegen der Zuständigkeit?« wollte Brunetti wissen.
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete der Maggiore. »Ihr in Venedig, die Staatspolizei, habt die Ermittlungen dort in der Hand. Aber ihr braucht die Erlaubnis oder Hilfe der Amerikaner für alles, was ihr eventuell hier unternehmen wollt.«
»In Vicenza?«
Ambrogiani lachte. »Nein, diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken. Nur hier, auf dem Stützpunkt. Solange Sie in Vicenza sind, in der Stadt, sind wir zuständig, die Carabinieri. Aber sobald Sie den Stützpunkt betreten, übernehmen die Amerikaner, und die helfen Ihnen dann auch.«
»Das klingt, als ob Sie da gewisse Zweifel hätten, Maggiore«, sagte Brunetti.
»Nein, keinerlei Zweifel. Nicht im mindesten.«
»Dann habe ich Ihren Ton fehlgedeutet.« Aber er glaubte nicht, daß er das hatte. Ganz und gar nicht. »Ich würde gern hinkommen und mit den Leuten reden, die den jungen Mann gekannt und mit ihm gearbeitet haben.«
»Das sind alles Amerikaner, oder die meisten«, sagte Ambrogiani und überließ es Brunetti, daraus mögliche Schwierigkeiten mit der Verständigung abzuleiten.
»Mein Englisch ist ganz gut.«
»Dann dürfte es kein Problem sein, sich mit ihnen zu unterhalten.«
»Wann könnte ich denn kommen?«
»Heute vormittag? Heute nachmittag? Wann Sie wollen, Commissario.«
Brunetti holte rasch aus der untersten Schublade seines Schreibtischs einen Fahrplan hervor und suchte die Strecke Venedig-Mailand heraus. Ein Zug fuhr in einer Stunde. »Ich kann den Zug um neun Uhr fünfundzwanzig nehmen.«
»Gut. Ich schicke Ihnen einen Wagen zum Bahnhof.«
»Vielen Dank, Maggiore.«
»Keine Ursache, Commissario. Keine Ursache. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.«
Nachdem Brunetti aufgelegt hatte, ging er als erstes durchs Zimmer zu dem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Er öffnete die Tür und begann in den Sachen herumzuwühlen, die sich im unteren Fach angesammelt hatten: ein Paar Stiefel, drei
Weitere Kostenlose Bücher