Brunetti 02 - Endstation Venedig
wollte, wissen Sie nicht mehr?«
Obwohl er katholisch erzogen worden war, hatte Brunetti sich nie sehr für Religion interessiert und konnte die verschiedenen Heiligen nur mit Mühe auseinanderhalten, etwa so, wie es den Heiden seiner Ansicht nach schwergefallen sein mußte, immer zu wissen, welche Gottheit wofür zuständig war. Außerdem hatte er stets den Eindruck gehabt, daß die Heiligen einfach zu viel Zeit damit vertaten, die verschiedensten Körperteile zu verlieren: Augen, Brüste, Arme, und jetzt bei der heiligen Barbara den Kopf. »Nein, ich kenne die Legende nicht. Was war denn mit ihr?«
Der Fahrer überfuhr ein Stoppschild und schwenkte um eine Kurve, sah Brunetti über die Schulter an und erklärte: »Ihr Vater war Heide und sie Christin. Er wollte, daß sie einen Heiden heiratete, aber sie wollte Jungfrau bleiben.« Leise fügte er hinzu: »Dämliches Frauenzimmer.« Dann heftete er den Blick wieder auf die Straße, gerade rechtzeitig, um durch scharfes Bremsen einen Zusammenstoß mit einem Laster zu vermeiden. »Da beschloß der Vater, sie zu bestrafen, indem er sie enthauptete. Er hob das Schwert, gab ihr eine letzte Möglichkeit, ihm doch noch zu gehorchen, und Zack! schlug ein Blitz in sein Schwert ein und tötete ihn.«
»Was wurde aus ihr?«
»Ach, das sagen sie einem in diesen Geschichten doch nie. Jedenfalls ist sie seitdem die Schutzpatronin der Artilleristen, wegen Blitz und Donner.« Er fuhr an ein weiteres niedriges Gebäude heran. »Hier waren wir, Commissario.« Dann meinte er noch etwas erstaunt: »Komisch, daß Sie die Geschichte nicht kannten. Ich meine, die mit der heiligen Barbara.«
»Ich war nicht mit dem Fall betraut«, sagte Brunetti.
Nach dem Essen ließ er sich noch einmal zu Fosters Wohnung fahren. Dieselben beiden Soldaten saßen vor dem Haus in ihrem Jeep. Sie stiegen beide aus, als Brunetti zu ihnen kam, und warteten.
»Guten Tag«, sagte er mit freundlichem Lächeln. »Ich möchte mich gern noch einmal in der Wohnung umsehen, wenn es geht.«
»Haben Sie darüber mit Major Butterworth gesprochen, Sir?«
»Nein, heute nicht. Aber er hat mir die Erlaubnis gestern gegeben.«
»Könnten Sie mir sagen, warum Sie noch einmal in die Wohnung wollen, Sir?«
»Mein Notizbuch. Ich habe mir gestern die Titel einiger seiner Bücher notiert und muß es dabei wohl auf dem Bücherregal liegengelassen haben. Ich habe es erst vermißt, als ich im Zug saß, und davor war ich zuletzt hier.« Er sah, daß der Soldat gleich nein sagen würde, und fügte hinzu: »Sie können gern mit hineingehen, wenn Sie möchten. Ich will wirklich nur mein Notizbuch holen, falls es da ist. Ich glaube nicht, daß die Wohnung selbst mir sehr weiterhilft, aber in meinem Notizbuch habe ich Aufzeichnungen zu anderen Dingen, die für mich wichtig sind.« Er merkte, daß er zuviel redete.
Die beiden Soldaten wechselten Blicke, und offenbar entschied der eine, daß es in Ordnung wäre. Der, den Brunetti angesprochen hatte, übergab dem anderen sein Gewehr und sagte: »Wenn Sie mitkommen, Sir. Ich lasse Sie in die Wohnung.«
Mit dankbarem Lächeln folgte Brunetti ihm zum Eingang und in den Fahrstuhl. Sie schwiegen beide auf der kurzen Fahrt in den dritten Stock. Der Soldat schloß die Tür auf, trat zurück, um Brunetti an sich vorbei in die Wohnung zu lassen, und machte die Tür dann hinter ihnen zu.
Brunetti ging ins Wohnzimmer und dort zum Bücherregal. Er suchte demonstrativ nach dem Notizbuch, das in seiner Jackentasche steckte, und bückte sich sogar, um unter einem Sessel neben dem Regal nachzusehen. »Komisch. Ich bin ganz sicher, daß ich es hier noch hatte.« Er zog ein paar Bücher heraus und schaute dahinter. Nichts. Er blieb stehen, um zu überlegen, wo er es sonst noch hingelegt haben könnte. »Ich habe in der Küche einen Schluck Wasser getrunken«, sagte er dann zu dem Soldaten. »Vielleicht habe ich es da irgendwo hingelegt.« Und dann, als sei ihm das gerade erst eingefallen: »Könnte es sein, daß jemand hier war und es gefunden hat?«
»Nein, Sir. Seit Sie weggegangen sind, ist niemand hier drin gewesen.«
»Gut«, meinte Brunetti mit seinem freundlichsten Lächeln. »Dann muß es hier sein.« Er ging vor dem Soldaten her in die Küche und zu der Arbeitsplatte neben der Spüle. Er sah sich überall um, bückte sich unter den Küchentisch und blieb dann stehen. Dabei baute er sich direkt vor dem Boiler auf. Die Schraubenschlitze, die er gestern so sorgfältig horizontal und vertikal
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