Brunetti 02 - Endstation Venedig
ausgerichtet hatte, waren alle leicht aus dem Lot. Es hatte also jemand nachgesehen und festgestellt, daß die Beutel verschwunden waren.
»Scheint nicht hier zu sein, Sir.«
»Nein, allerdings nicht«, pflichtete Brunetti ihm mit echter Bestürzung in der Stimme bei. »Sehr merkwürdig. Ich bin ganz sicher, daß ich es noch hatte, als ich hier war.«
»Sie könnten es in Ihrem Auto verloren haben«, meinte der Soldat.
»Das hätte der Fahrer mir sicher gesagt«, entgegnete Brunetti, und dann, als wäre ihm der Gedanke eben erst gekommen: »Falls er es gefunden hat.«
»Sie sollten lieber mal nachsehen, Sir.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung, die der Soldat sorgfältig abschloß. Im Fahrstuhl nach unten entschied Brunetti, daß es viel zu sehr nach Zufall aussehen würde, wenn er das Notizbuch hinter dem Rücksitz des Autos fände. Also bedankte er sich bei dem Soldaten, als sie aus dem Gebäude traten, und ging zu seinem Wagen zurück.
Da er nicht sicher war, ob der Amerikaner noch in Hörweite war und Italienisch verstand, spielte er das Spiel weiter und fragte seinen Fahrer, ob er ein Notizbuch im Auto gefunden hätte. Natürlich hatte er nicht. Brunetti öffnete die hintere Tür, fuhr mit der Hand hinter den Rücksitz und tastete in der Leere herum. Er fand nichts, was ihn ja auch nicht weiter verwunderte. Also richtete er sich auf, drehte sich zu dem Jeep um und hielt mit vielsagender Geste seine leeren Hände hoch. Nachdem er so signalisiert hatte, daß seine Suche ergebnislos verlaufen war, stieg er ein und bat den Fahrer, ihn zum Bahnhof zu bringen.
12
Der einzige Zug, der um diese Zeit von Vicenza nach Venedig fuhr, war ein Bummelzug, der an jedem Bahnhof hielt. Da der Intercity aus Mailand aber erst in vierzig Minuten kam, entschied Brunetti sich für den Regionalzug, auch wenn er dieses ständige Anhalten und wieder Anfahren verabscheute, mit den häufig wechselnden Fahrgästen und der Menge von Studenten, die in Padua immer ein- und ausstiegen.
Beim Mittagessen hatte er eine englischsprachige Zeitung mitgenommen, die jemand auf seinem Tisch hatte liegenlassen. Jetzt zog er sie aus der Brusttasche und begann zu lesen. The Stars and Stripes nannte sich das Blatt in roten Buchstaben, offensichtlich vom amerikanischen Militär in Europa herausgegeben. Auf der Titelseite stand ein Artikel über einen Hurrikan, der eine Stadt namens Biloxi heimgesucht hatte, die er in Bangladesch gesucht hätte. Nein, sie lag doch in Amerika, aber wie erklärte sich dann der Name? Ein großes Foto zeigte verwüstete Häuser, umgestürzte Autos und entwurzelte, wild sich türmende Bäume. Er blätterte um und las, daß in Detroit ein Pitbull einem schlafenden Kind die Hand abgebissen hatte. Bei Detroit war er ganz sicher, daß die Stadt in Amerika lag. Zu dieser Meldung gab es kein Foto. Der Verteidigungsminister hatte dem Kongreß versichert, daß alle Unternehmer, die den Staat betrogen hatten, unnachsichtig vom Gesetz verfolgt würden. Bemerkenswert, diese Ähnlichkeit in der Rhetorik amerikanischer und italienischer Politiker. Er zweifelte nicht daran, daß diese Versicherung in beiden Ländern auch gleichermaßen illusorisch war.
Drei Seiten waren mit Cartoons gefüllt, von denen er keinen einzigen verstand, und sechs Seiten mit Sport, wovon er noch weniger verstand. In einem der Cartoons schwang ein Höhlenmensch eine Keule, und auf einer der Sportseiten tat ein Mann in gestreiftem Trikot dasselbe. Darüber hinaus verstand Brunetti nur Bahnhof. Auf der letzten Seite wurde der Bericht über den Hurrikan fortgesetzt, aber da fuhr der Zug schon in Venedig ein, und er ließ die Sturmschäden Sturmschäden sein. Die Zeitung legte er auf den Nebensitz, vielleicht konnte jemand anderes mehr damit anfangen als er.
Es war schon nach sieben, aber der Himmel noch hell. Das würde an diesem Wochenende vorbei sein, dachte er, wenn die Uhren eine Stunde zurückgestellt wurden und es früher dunkelte. Oder war es andersherum, und es blieb länger hell? Er hoffte, die meisten Leute brauchten jedes Jahr genau so lange wie er, um das herauszufinden. Er überquerte die Scalzibrücke und betrat das Gassengewirr, das zu seiner Wohnung führte. Selbst um diese Zeit begegneten ihm nur wenige Menschen, da die meisten mit dem Boot zum Bahnhof oder Busbahnhof am Piazzale Roma fuhren. Beim Gehen betrachtete er aufmerksam die Häuserfronten mit ihren Fenstern und sah sich die engen Gäßchen an, ob ihm irgend etwas auffiel, was ihm
Weitere Kostenlose Bücher