Brunetti 02 - Endstation Venedig
bis dahin entgangen war. Wie vielen anderen Venezianern machte es Brunetti immer wieder Spaß, etwas zu entdecken, was er noch nie gesehen hatte. Im Lauf der Jahre hatte er ein System ausgearbeitet, das ihm für jede Neuentdeckung eine Belohnung versprach: Ein Fenster brachte ihm einen Kaffee ein; die Statue eines Heiligen, mochte sie auch noch so unscheinbar sein, ein Glas Wein; und einmal, vor Jahren, hatte er an einer Mauer, an der er seit seiner Kindheit mindestens fünfmal die Woche vorbeiging, eine Steintafel entdeckt, die an den Sitz des Verlages Aldine erinnerte, des ältesten italienischen Verlagshauses, gegründet im vierzehnten Jahrhundert. Damals war er schnurstracks in eine Bar am Campo San Luca gegangen und hatte sich einen Brandy Alexander bestellt, obwohl es erst zehn Uhr morgens war und der Barmann ihn sehr merkwürdig angesehen hatte, als er ihm das Glas hinstellte.
Heute abend war er jedoch in Gedanken immer noch in Vicenza und sah die Schlitze der Schrauben an dem Boiler in Fosters Wohnung vor sich, die alle leicht von der sorgsamen Geraden abwichen, in der Brunetti sie tags zuvor hinterlassen hatte; eine jede strafte die Behauptung des Soldaten, daß nach Brunetti niemand die Wohnung betreten habe, Lügen. Jetzt wußten sie - wer immer »sie« waren -, daß Brunetti das Kokain aus der Wohnung mitgenommen und kein Wort darüber verloren hatte.
Er schloß die Haustür auf und hatte schon den Briefkasten aufgemacht, bevor ihm einfiel, daß Paola seit Stunden zu Hause war und sicher schon nach der Post gesehen hatte. Er begann den Aufstieg zu seinem Heim, dankbar für den ersten Treppenabschnitt mit den flachen, sanften Stufen, einem Überbleibsel des ursprünglichen Palazzo aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Danach machte das Treppenhaus eine Wendung nach links, und zwei steile Treppenteile führten zum nächsten Stockwerk. Dort erwartete ihn eine Tür, die er auf- und hinter sich wieder zuschloß. Dann eine weitere Treppe, diese steil und gefährlich. Fast wie eine Wendeltreppe schraubten diese letzten fünfundzwanzig Stufen sich zu seiner Wohnungstür hinauf. Er schloß auf und trat ein, endlich zu Hause.
Essensdufte begrüßten ihn, mehrere durcheinander. Heute erkannte er den feinen Geruch nach Kürbis, das bedeutete, daß Paola risotto con zucca machte, erhältlich nur um diese Jahreszeit, wenn aus Chioggia die dunkelgrünen, gedrungenen barucche über die Lagune kamen. Und danach? Kalbshaxe? Geschmort mit Oliven und Weißwein?
Er hängte sein Jackett in den Schrank und ging durch den Flur zur Küche. Dort war es heißer als sonst, das hieß, die Bratröhre war an. Die große Pfanne auf dem Herd enthüllte ihm, als er den Deckel hob, dunkelorangefarbene Zuccastücke, die zusammen mit kleingeschnittenen Zwiebeln vor sich hin brutzelten. Er holte sich ein Glas aus dem Regal und nahm eine Flasche Ribolla aus dem Kühlschrank. Er goß sich etwas mehr als einen Schluck ein, probierte, trank aus und füllte das Glas, bevor er die Flasche zurückstellte. Die Wärme der Küche beengte ihn. Er lockerte seine Krawatte und trat wieder in den Flur. »Paola?«
»Ich bin hier hinten«, hörte er sie rufen.
Er antwortete nicht, sondern ging in das langgestreckte Wohnzimmer und von dort auf die Dachterrasse hinaus.
Brunetti liebte sie zu dieser Tageszeit besonders, weil man den Sonnenuntergang beobachten konnte. An sehr klaren Tagen sah man vom kleinen Fenster in der Küche aus die Dolomiten, aber jetzt war es dafür zu spät, um diese Stunde lagen sie schon im Dunst verborgen. Er blieb, wo er war, die Unterarme aufs Geländer gestützt, und blickte über die Dächer und Türme, die ihn immer wieder entzückten. Er hörte Paola durch den Flur in die Küche zurückgehen, hörte das dumpfe Geräusch von hin- und hergeschobenen Töpfen, aber er blieb stehen, lauschte dem Acht-Uhr-Läuten von San Polo, dann der Antwort von San Marco, die wie immer ein paar Sekunden zu spät über die Stadt dröhnte. Als alle Glocken wieder schwiegen, ging er zurück in die Wohnung und schloß die Tür gegen die abendliche Kuhle.
In der Küche stand Paola am Herd und rührte im Reis, wobei sie hin und wieder innehielt, um kochende Brühe nachzugießen. »Ein Glas Wein?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf und rührte weiter. Er ging hinter ihr vorbei, küßte sie dabei auf den Nacken und goß sich ein weiteres Glas Wein ein.
»Wie war's in Vicenza?« fragte sie.
»Du solltest lieber fragen, wie war's in Amerika.«
»Ja,
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