Brunetti 02 - Endstation Venedig
schien Genaueres zu wissen, außer daß sie gefährlich sind.«
»Viel mehr habe ich bei meiner ganzen Lektüre auch nicht gelernt«, räumte Brunetti ein. »Es gibt da ein ganzes Spektrum, ein echter Todescocktail. Sie sind leicht herzustellen, und die meisten Fabriken brauchen offenbar einige davon, oder sie fallen bei dem, was sie herstellen, als Nebenprodukte ab. Die Probleme beginnen, wenn man sie loswerden will. Früher konnte man sie fast überall deponieren, aber das ist jetzt nicht mehr so einfach. Zu viele Leute haben sich beschwert, daß sie so etwas nicht vor ihrer Haustür haben wollen.«
»Stand nicht mal etwas in den Zeitungen über einen Frachter, ›Karen B‹ oder so ähnlich, der bis Afrika kam, dann umkehren mußte und schließlich in Genua landete?« Als Ambrogiani es erwähnte, erinnerte auch Brunetti sich an die Schlagzeilen über den »Giftfrachter«, der versucht hatte, seine Ladung in einem afrikanischen Hafen zu löschen und keine Erlaubnis zum Anlegen erhalten hatte. So hatte das Schiff offenbar wochenlang auf dem Mittelmeer gekreuzt, und die Presse hatte sich der Sache ebenso begeistert angenommen wie jener verrückten Delphine, die alle paar Jahre versuchten, den Tiber hinaufzuschwimmen. Schließlich hatte die ›Karen B‹ Genua angelaufen, und das war das Ende der Geschichte gewesen. Als wäre sie in den Wellen des Mittelmeers versunken, war die ›Karen B‹ von den Seiten der Zeitungen und den Bildschirmen des italienischen Fernsehens verschwunden. Und die giftige Ladung, eine ganze Schiffsladung, war ebenso vollständig verschwunden, und niemand wußte oder fragte, wie. Oder wohin.
»Ja, aber ich weiß nicht mehr, was sie geladen hatte«, sagte Brunetti.
»Wir hatten hier noch nie einen solchen Fall«, sagte Ambrogiani, der es nicht für nötig hielt, zu erklären, daß er mit »wir« die Carabinieri und mit dem »Fall« eine illegale Müllkippe meinte. »Ich weiß nicht einmal, ob es unsere Aufgabe ist, danach zu suchen oder jemanden dafür zu verhaften.«
Keiner von beiden mochte das Schweigen brechen, das der Gedanke nach sich zog. Schließlich sagte Brunetti: »Interessant, nicht?«
»Daß offenbar niemand dafür verantwortlich ist, den Gesetzen Geltung zu verschaffen? Falls es Gesetze gibt.«
»Ja.«
Bevor sie dem noch weiter nachgehen konnten, öffnete sich die linke Eingangstür des Hauses, das sie beobachteten, und ein Mann trat heraus. Er kam die Treppe herunter, machte das Garagentor auf und bückte sich, um die beiden Fahrräder auf den Rasen neben der Auffahrt zu legen. Als er in der Garage verschwand, stiegen Brunetti und Ambrogiani zugleich aus dem Auto und gingen auf das Haus zu.
In dem Moment, als sie das Tor im Zaun erreicht hatten, kam langsam ein Auto aus der Garage. Es fuhr rückwärts auf das Tor zu, der Mann stieg bei laufendem Motor aus und wollte das Tor aufmachen. Entweder sah er die beiden Männer nicht, oder er hatte beschlossen, sie nicht zu beachten. Er entriegelte das Tor, schob es auf und ging auf die offene Tür seines Wagens zu.
»Sergeant Kayman?« rief Brunetti in den Motorenlärm.
Beim Klang seines Namens drehte der Mann sich um und sah zu ihnen herüber. Beide Polizisten traten vor, blieben aber am Tor stehen, um nur ja nicht unaufgefordert das Anwesen des Mannes zu betreten. Daraufhin winkte der Mann sie herein und griff in seinen Wagen, um den Motor abzustellen.
Er war groß und blond und ging leicht vornübergebeugt, eine Haltung, die vielleicht früher einmal seine Größe kaschieren sollte, inzwischen aber zur Gewohnheit geworden war. Er bewegte sich mit jener lässigen Leichtigkeit, die bei Amerikanern so häufig zu beobachten ist und die sie so gut in Freizeitkleidung aussehen läßt und so linkisch im offiziellen Anzug. Er kam mit offenem, fragendem Gesicht auf sie zu, ohne zu lächeln, aber auch keineswegs mißtrauisch.
»Ja?« fragte er auf englisch. »Suchen Sie mich?«
»Sergeant Edward Kayman?« fragte Ambrogiani.
»Ja. Was kann ich für Sie tun? Bißchen früh, nicht?«
Brunetti trat vor und streckte die Hand aus. »Guten Morgen, Sergeant. Ich bin Guido Brunetti von der Polizei in Venedig.«
Der Amerikaner begrüßte Brunetti mit kräftigem Händedruck. »Da sind Sie aber ein ganzes Ende weg von zu Hause, Mr. Brunetti, oder?« fragte er, wobei er aus den beiden T zwei D machte.
Es war freundlich gemeint, und Brunetti lächelte ihn an. »Das kann man sagen. Aber ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen,
Weitere Kostenlose Bücher