Brunetti 03 - Venezianische Scharade
nach unten und sah sofort, daß beide Schuhe ordentlich geschnürt waren. Er warf Brunetti einen Blick zu, mit dem man Glas hätte schneiden können, sagte aber nichts.
Brunetti blieb vor dem Sofa stehen und blickte auf Crespo hinunter. »Mein Name ist Brunetti«, sagte er. »Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, können Sie mich in der Questura in Venedig anrufen.«
Santomauro wollte etwas sagen, hielt sich jedoch zurück. Brunetti verließ die Wohnung.
9
D er Rest des Tages brachte keine weiteren Ergebnisse, weder für Brunetti noch für die beiden anderen Polizisten, die sich durch ihre Listen ackerten. Als sie sich am Spätnachmittag wieder in der Questura trafen, berichtete Gallo, drei der Befragten von seiner Liste hätten erklärt, sie wüßten nicht, wer der Mann sei, was seiner Ansicht nach der Wahrheit entsprach. Zwei weitere seien nicht zu Hause gewesen, und ein anderer habe gemeint, der Mann komme ihm irgendwie bekannt vor, aber er könne nicht sagen, warum oder inwiefern. Scarpa hatte ähnliche Erfahrungen gemacht; alle Männer, mit denen er gesprochen hatte, waren sicher, den Toten nie gesehen zu haben.
Sie kamen überein, daß sie am nächsten Tag versuchen wollten, den Rest ihrer Adressen abzuhaken. Brunetti bat Gallo, eine zweite Liste von den weiblichen Huren vorzubereiten, die draußen bei den Fabriken und auf der Via Cappuccina arbeiteten. Auch wenn er wenig Hoffnung hatte, daß diese Frauen ihnen weiterhelfen konnten, bestand immerhin die Möglichkeit, daß sie die Konkurrenz bemerkt hatten und den Mann erkannten.
Als Brunetti die Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg, phantasierte er sich zusammen, was ihn dort erwarten würde, wenn er die Tür aufschloß. Durch einen Zauber hätten Feen im Lauf des Tages eine Klimaanlage installiert; andere hätten eine dieser Duschen eingebaut, wie er sie bisher nur aus Broschüren von Luxusbädern und aus amerikanischen Seifenopern kannte. Zwanzig verschiedene Duschköpfe würden seinen Körper mit nadelfeinen, duftenden Wasserstrahlen besprühen, und wenn er mit dem Duschen fertig war, würde er sich in ein riesiges, flauschiges Handtuch hüllen. Und dann wäre da eine Bar, vielleicht so eine, wie sie oft an Swimmingpools waren, und ein Barmann in weißem Jackett würde ihm einen kühlen Longdrink anbieten, auf dem eine Hibiskusblüte schwamm. Nachdem seine unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, wandte er sich dem Utopischen zu und beschwor zwei gehorsame und pflichtbewußte Kinder herauf, dazu eine Fee von einer Ehefrau, die ihm beim Heimkommen als erstes erzählte, daß der Fall gelöst sei und sie am nächsten Morgen alle zusammen in die Ferien fahren könnten.
Die Wirklichkeit war dann, wie sie das so an sich hat, etwas anders. Seine Familie hatte sich auf die Dachterrasse zurückgezogen, wo die erste Kühle des Abends zu spüren war. Chiara blickte von ihrem Buch auf, sagte: »Ciao, papà«, reckte das Kinn, um seinen Kuß entgegenzunehmen, und steckte die Nase wieder in ihr Buch. Raffi hob den Blick von der neuesten Ausgabe des Gente Uomo, wiederholte Chiaras Begrüßungsworte und gab sich erneut der Überlegung hin, ob Leinen eine dringende Notwendigkeit sei. Paola sah seine Verfassung, stand auf, schlang die Arme um ihn und küßte ihn auf den Mund.
»Guido, geh duschen, ich hole dir inzwischen etwas zu trinken.« Irgendwo links von ihnen schlug eine Glocke, Raffi blätterte eine Seite um, und Brunetti lockerte seine Krawatte.
»Aber mit Hibiskusblüte«, sagte er und verschwand Richtung Bad.
Zwanzig Minuten später saß er in bequemen Baumwollhosen und einem Leinenhemd draußen, die nackten Füße auf der Terrassenbrüstung, und erzählte Paola von seinem Tag. Die Kinder waren verschwunden, zweifellos, um pflichtbewußt und gehorsam irgendeiner Tätigkeit nachzugehen.
»Santomauro?« fragte sie. »Giancarlo Santomauro?«
»Genau der.«
»Wie pikant«, meinte sie mit echtem Entzücken in der Stimme. »Ich wünschte, ich hätte dir nie versprechen müssen, nicht über das zu reden, was du mir erzählst; das ist ja herrlich.« Und sie wiederholte genüßlich Santomauros Namen.
»Du erzählst doch nichts weiter, Paola, oder?« fragte er unnötigerweise.
Sie wollte schon eine ärgerliche Antwort abfeuern, aber dann beugte sie sich herüber und legte ihm die Hand aufs Knie. »Nein, Guido. Ich habe noch nie etwas weitergegeben. Und ich werde es auch nie tun.«
»Tut mir leid, daß ich gefragt habe«, sagte er, den
Weitere Kostenlose Bücher