Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Ihnen gern noch ein Foto zeigen.« Brunetti setzte sein verführerischstes Lächeln auf, und Crespos Hand flog wie ein Vogel zu der sanften Höhlung zwischen seinen Schlüsselbeinen zurück. »Aber natürlich, Commissario. Natürlich, wenn Sie wollen.«
Brunetti lächelte wieder und griff nach dem dünnen Stapel Fotos in seiner Mappe. Er nahm eines davon und betrachtete es kurz. Es erfüllte seinen Zweck so gut wie jedes andere. Dann sah er Crespo an, der wieder dicht an ihn herangetreten war. »Es besteht die Möglichkeit, daß er von einem Mann getötet wurde, der für seine Dienste bezahlt hat. Das heißt, daß Männern wie ihm Gefahr von demselben Mann drohen könnte.« Er hielt Crespo das Foto hin.
Der nahm es und berührte dabei wie zufällig Brunettis Finger. Dann hielt er das Bild zwischen ihnen hoch, bedachte Brunetti mit einem langen Lächeln und neigte, immer noch lächelnd, den Kopf darüber. Gleich darauf flog seine Hand vom Hals an seinen halb geöffneten Mund. »Nein, nein«, keuchte er, den Blick immer noch auf dem Foto. »Nein, nein«, wiederholte er und sah mit schreckgeweiteten Augen zu Brunetti auf. Dann rammte er das Foto mit ausgestrecktem Arm gegen Brunettis Brust und machte ein paar Schritte rückwärts, als ginge ein Pesthauch von Brunetti aus. Das Foto fiel zu Boden. »Das können sie mit mir nicht machen. Das passiert mir nicht«, sagte er, während er weiter zurückwich. Mit jedem Wort wurde seine Stimme schriller, bis sie überschnappte. »Nein, das passiert mit mir nicht. Mir passiert nichts. Niemals.« Seine Stimme forderte hysterisch die Welt heraus, in der er lebte. »Mir nicht, nein, mir nicht«, schrie er, während er immer weiter vor Brunetti zurückwich. In der Mitte des Zimmers stieß er an einen Tisch, geriet in Panik, als seine Flucht vor dem Foto und dem Mann, der es ihm gezeigt hatte, blockiert war, und schlug wild um sich. Eine Vase, das Gegenstück zu der neben Brunetti, fiel krachend auf den Boden.
Die Tür zum anderen Zimmer ging auf, und ein weiterer Mann kam mit raschen Schritten herein. »Was ist denn los?« fragte er. »Was ist passiert?«
Er blickte zu Brunetti hinüber, und beide erkannten sich augenblicklich. Giancarlo Santomauro war nicht nur einer der bekanntesten Anwälte Venedigs, der dem patriarca oft kostenlosen juristischen Rat erteilte, sondern auch Präsident und treibende Kraft der Lega della Moralità, einer Vereinigung christlicher Laien, die sich »der Bewahrung und dem Fortbestand von Glauben, Familie und Tugend« verschrieben hatte.
Brunetti nickte nur kurz. Falls diese Männer aus irgendeinem Grund nicht wußten, wer Crespos Kunde war, dann war es für den Anwalt besser, wenn es dabei blieb.
»Was machen Sie denn hier?« fragte Santomauro ärgerlich. Er drehte sich zu dem älteren Mann um, der jetzt neben dem Sofa stand, auf das Crespo schluchzend niedergesunken war, beide Hände vors Gesicht geschlagen. »Können Sie ihn nicht zum Schweigen bringen?« rief Santomauro. Brunetti sah zu, wie der Ältere sich über Crespo beugte, etwas zu ihm sagte und dann die Hände auf seine Schultern legte und ihn so lange schüttelte, bis sein Kopf hin und her flog. Crespo hörte auf zu weinen, behielt aber die Hände vor dem Gesicht.
»Was haben Sie in dieser Wohnung zu suchen, Commissario? Ich bin Signor Crespos Anwalt und werde nicht zulassen, daß die Polizei meinen Klienten weiterhin so brutal behandelt.«
Brunetti antwortete nicht, sondern beobachtete immer noch das Paar auf dem Sofa. Der ältere Mann hatte sich inzwischen neben Crespo gesetzt und legte ihm jetzt schützend den Arm um die Schultern, worauf sich Crespo allmählich beruhigte.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Commissario«, sagte Santomauro.
»Ich hatte Signor Crespo gebeten, uns bei der Identifizierung eines Gewaltopfers behilflich zu sein. Ich habe ihm ein Foto des Mannes gezeigt. Seine Reaktion sehen Sie. Eine ziemlich heftige Art, auf den Tod eines Mannes zu reagieren, den er angeblich nicht kannte, meinen Sie nicht?«
Der Mann im Pullover sah Brunetti bei den Worten an, aber Santomauro gab die Antwort. »Wenn Signor Crespo gesagt hat, daß er ihn nicht kennt, dann haben Sie ja Ihre Antwort und können gehen.«
»Natürlich«, sagte Brunetti, klemmte sich die Mappe unter den rechten Arm und machte einen Schritt zur Tür hin. Dann sagte er halb über die Schulter und ganz beiläufig zu Santomauro: »Sie haben vergessen. Ihre Schuhe zuzubinden, avvocato.«
Santomauro schaute
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