Brunetti 03 - Venezianische Scharade
spalten, größere Einheiten in kleinere zu zersplittern. Sieh dir nur Osteuropa und Jugoslawien an. Sieh dir unsere eigenen politischen Leghe an, die Italien wieder in viele kleine, unabhängige Einheiten zerstückeln wollen.«
»Machst du da nicht aus einer Mücke einen Elefanten, Damiano?«
»Möglicherweise ja. Die Lega della Moralità könnte genausogut ein Häufchen harmloser alter Damen sein, die gern zusammenkommen und über die guten alten Zeiten reden. Aber wer weiß denn schon, wie viele Mitglieder sie haben? Was wirklich ihre Ziele sind?«
In Italien werden Verschwörungstheorien schon mit der Muttermilch eingesogen, und Italiener neigen dazu, überall Verschwörungen zu wittern. Infolgedessen zog jede Gruppierung, die sich nicht offen zu erkennen gab, sofort alle möglichen Verdächtigungen auf sich; das war früher bei den Jesuiten so, und heute bei den Zeugen Jehovas. Bei den Jesuiten sogar immer noch, verbesserte sich Brunetti. Verschwörungen führten zweifellos zu Heimlichtuerei, aber Brunetti wollte nichts davon wissen, daß dies auch andersherum galt und jede Heimlichtuerei gleichbedeutend mit einer Verschwörung war.
»Na?« fragte Padovani gespannt.
»Na, was?«
»Wieviel weißt du über die Lega?«
»Sehr wenig«, gab Brunetti zu. »Aber wenn ich einem Verdacht nachzugehen hätte, würde ich mich nicht um ihre Ziele kümmern, sondern um ihre Finanzen.« In zwanzig Jahren Polizeiarbeit hatte Brunetti nur wenige Regeln aufgestellt, aber eine davon lautete, daß Menschen von hehren Prinzipien oder politischen Idealen selten so stark bestimmt wurden wie von ihrer Gier nach Geld.
»Ich bezweifle sehr, daß Santomauro an etwas so Prosaischem wie Geld interessiert wäre.«
»Dami, jeder ist an Geld interessiert, und die meisten Menschen werden dadurch motiviert.«
»Motive hin, Ziele her, eines steht fest, wenn Giancarlo Santomauro sich an die Spitze einer Sache stellt, dann stinkt sie. Das ist wenig genug, aber es ist sicher.«
»Weißt du etwas über sein Privatleben?« fragte Brunetti und dachte dabei, wie viel feinsinniger »Privatleben« klang, im Gegensatz zu »Sexualleben«, das er meinte.
»Ich weiß nur, was man so redet, was man aus beiläufigen Bemerkungen und Kommentaren heraushört. Du weißt ja, wie so etwas ist.« Brunetti nickte. Ja, das kannte er. »Also, dann weiß ich, und ich wiederhole, daß ich es eigentlich nicht weiß - auch wenn ich es weiß -, daß er kleine Jungen mag, je jünger, desto besser. Wenn du dir seine Vergangenheit ansiehst, wirst du feststellen, daß er mindestens einmal im Jahr in Bangkok war. Ohne die unsägliche Signora Santomauro, wohlgemerkt. Aber in den letzten Jahren ist er nicht mehr hingefahren. Erklären kann ich das nicht, aber ich weiß, daß sich solche Vorlieben nicht ändern, sie verschwinden nicht einfach, und sie können auf keine andere Weise befriedigt werden, als durch das Objekt der Begierde.«
»Wie viele, äh, gibt es denn hier davon?« Warum nur waren manche Dinge mit Paola so leicht zu bereden und so schwierig mit anderen?
»Gar nicht so wenige, allerdings sind die Zentren Rom und Mailand.«
Brunetti hatte darüber in Polizeiberichten gelesen. »Und Filme?«
»Filme ganz sicher, aber auch das Echte, für den, der bereit ist zu zahlen. Beinah hätte ich gesagt, und den, der willens ist, das Risiko auf sich zu nehmen, aber von Risiko kann man kaum mehr reden, nicht heutzutage.«
Brunetti blickte auf seinen Teller und sah seinen geschälten, aber unberührten Pfirsich daliegen. Er mochte ihn nicht mehr. »Damiano, wenn du von ›kleinen Jungen‹ redest, welches Alter meinst du da?«
Padovani lächelte plötzlich. »Weißt du, Guido, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dir das alles schrecklich peinlich ist.«
Brunetti sagte nichts.
»›Klein‹, das kann zwölf sein, aber auch zehn.«
»Oh.« Es entstand eine lange Pause, dann fragte Brunetti: »Bist du dir bei Santomauro ganz sicher?«
»Ich bin sicher, daß er in diesem Ruf steht, und der ist wahrscheinlich nicht unbegründet. Aber ich habe keine Beweise, keine Zeugen, niemanden, der das je beschwören würde.«
Padovani erhob sich und ging zu einer niedrigen Anrichte, auf der in einer Ecke die verschiedensten Flaschen standen. »Grappa?« fragte er.
»Ja, bitte.«
»Ich habe einen sehr guten, der nach Birne schmeckt. Willst du den probieren?«
»Ja.«
Brunetti ging zu ihm hinüber, nahm das angebotene Glas und setzte sich wieder aufs Sofa.
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