Brunetti 03 - Venezianische Scharade
langen Spaziergang zur Casa di Riposo machen.
Angesichts des bevorstehenden Besuchs plagten Brunetti in der Nacht die Erinnerungen ebenso wie die Hitze und die Mücken, die sich nicht aussperren ließen. Um acht war er schließlich ganz wach und stand vor derselben Entscheidung wie jeden zweiten Sonntag, nämlich ob er vor oder nach dem Mittagessen hinfahren sollte. Es spielte, wie der Besuch selbst, keine Rolle, ausschlaggebend war nur die Hitze. Sie wäre noch infernalischer, wenn er bis zum Nachmittag wartete, also beschloß er, sich gleich aufzumachen.
Er verließ die Wohnung vor neun, ging zu Fuß zum Piazzale Roma und hatte dort das Glück, nur Minuten später den Bus nach Mira zu erwischen. Da er als einer der letzten eingestiegen war, fand er nur noch einen Stehplatz und schwankte hin und her, während der Bus über die Brücke fuhr und anschließend durch das Labyrinth von Überführungen kurvte, die bei Mestre den Verkehr über oder um die Stadt herum leiteten.
Einige der Gesichter im Bus kannte er, denn man nahm am Busbahnhof in Mira oft zu mehreren ein Taxi oder ging, wenn es schön war, zusammen zu Fuß, wobei man aber höchstens übers Wetter sprach. Sechs Leute stiegen mit Brunetti aus; zwei der Frauen kannte er vom Sehen, und sie einigten sich schnell darauf, sich ein Taxi zu teilen. Da das Taxi keine Klimaanlage hatte, konnten sie über die Hitze reden, eine Ablenkung, für die alle gleichermaßen dankbar waren.
Vor der Casa di Riposo hielt jeder schon fünftausend Lire bereit. Der Fahrer hatte den Taxameter nicht eingeschaltet; wer diese Fahrt machte, kannte den Preis.
Gemeinsam betraten sie das Gebäude, sprachen immer noch von der Hoffnung, daß der Wind drehen oder es regnen möge, und klagten, sie hätten noch nie einen solchen Sommer erlebt, und was wohl aus den Bauern werde, wenn es nicht bald regne.
Brunetti kannte den Weg und stieg in den dritten Stock, während die beiden Frauen im zweiten abbogen, wo die Männerabteilung war. Oben angekommen, sah er Suor Immacolata, die ihm von allen Schwestern, die hier arbeiteten, die liebste war.
»Buon giorno, dottore«, begrüßte sie ihn lächelnd und kam über den Flur auf ihn zu.
»Buon giorno, suora«, sagte er. »Sie sehen so frisch aus, als könnte die Hitze Ihnen überhaupt nichts anhaben.«
Sie lächelte, wie immer, wenn er einen Scherz darüber machte. »Ach, ihr aus dem Norden wißt ja nicht, was richtige Hitze ist. Das ist doch noch gar nichts, nur ein Hauch von Frühling.« Suor Immaculata stammte aus den sizilianischen Bergen und war vor zwei Jahren von ihrem Orden hierhergeschickt worden. Bei all der Qual, dem Irrsinn und dem Jammer, die sie Tag für Tag hier erlebte, machte ihr einzig die Kälte zu schaffen, aber ihre Bemerkungen darüber waren stets ironisch und wegwerfend, als wollte sie damit sagen, daß angesichts des wirklichen Leids um sie herum ihre eigenen Sorgen bedeutungslos waren. Sie lächelte, und Brunetti stellte wieder einmal fest, wie schön sie war: braune Mandelaugen, sanfter Mund, schmale, elegante Nase. Es erschien ihm widersinnig. Aus seiner weltlichen Sicht - er begriff sich als Mann des Fleisches - sah Brunetti nur die Entsagung und konnte mit den Wünschen, die dazu geführt haben mochten, nicht viel anfangen.
»Wie geht es ihr?« fragte er.
»Sie hatte eine gute Woche, Dottore.« Was wohl so viel heißen wollte wie: Sie war auf niemanden losgegangen, sie hatte nichts kaputtgeschlagen, sie hatte sich nichts angetan.
»Hat sie Appetit?«
»Ja, Dottore. Am Mittwoch hat sie sogar mit den anderen Damen zu Mittag gegessen.« Er wartete nur noch darauf, was für eine Katastrophe das zur Folge gehabt haben mochte, aber Suor Immacolata sagte nichts weiter.
»Meinen Sie, ich kann zu ihr gehen?« fragte er.
»Aber sicher, Dottore. Soll ich mitkommen?« Wie schön war doch die Grazie der Frauen, wie sanft ihre Mildtätigkeit.
»Danke, Schwester. Vielleicht beruhigt es sie, wenn sie mich mit Ihnen zusammen sieht, zumindest beim Hereinkommen.«
»Ja, die Überraschung wird vielleicht etwas gemildert. Wenn sie sich erst an einen Menschen gewöhnt hat, geht es normalerweise gut mit ihr. Und wenn sie merkt, daß Sie es sind, Dottore, freut sie sich bestimmt.«
Das war eine Lüge. Brunetti wußte es, und Suor Immacolata wußte es auch. Ihr Glaube sagte ihr, Lügen sei eine Sünde, und doch erzählte sie diese Lüge Brunetti und seinem Bruder Woche für Woche. Später betete sie auf Knien um Vergebung für eine
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