Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Sünde, von der sie nicht anders konnte, als sie zu begehen, und von der sie wußte, daß sie sie immer wieder begehen würde. Im Winter schlief sie nach dem Beten außerdem bei weit geöffnetem Fenster und nahm die einzige dünne Decke, die ihr erlaubt war, vom Bett. Dennoch erzählte sie jede Woche die gleiche Lüge.
Sie drehte sich um und ging voraus, den wohlvertrauten Weg zu Zimmer 308. Rechts im Korridor hatte man drei Frauen in ihren Rollstühlen an die Wand geschoben. Zwei schlugen rhythmisch auf ihre Armlehnen und brabbelten dabei unsinniges Zeug, die dritte wiegte sich vor und zurück, vor und zurück, ein irres menschliches Metronom. Als er vorbeiging, packte die eine, die immer nach Urin roch, Brunettis Arm. »Bist du Giulio? Bist du Giulio?« fragte sie.
»Nein, Signora Antonia«, sagte Suor Immacolata, beugte sich hinunter und strich der Alten das kurze, weiße Haar aus dem Gesicht. »Giulio war gerade hier und hat Sie besucht. Erinnern Sie sich nicht? Er hat Ihnen dieses niedliche kleine Tier mitgebracht.« Dabei nahm sie der Frau einen kleinen, abgegriffenen Teddy vom Schoß und legte ihn ihr in die Hände.
Die Alte sah sie mit einem fragenden, auf ewig verwirrten Blick an, einem Blick, aus dem nur der Tod die Verwirrung tilgen konnte, und fragte: »Giulio?«
»Ja, Signora. Giulio hat Ihnen den kleinen orsetto mitgebracht. Ist er nicht wunderhübsch?« Sie hob den kleinen Bären hoch und hielt ihn der alten Frau hin; die nahm ihn, wandte sich wieder Brunetti zu und fragte: »Bist du Giulio?«
Suor Immacolata ergriff seinen Arm und zog ihn weiter. »Ihre Mutter hat diese Woche die Kommunion empfangen. Ich glaube, das hat ihr sehr geholfen.«
»Ja, bestimmt hat es das«, sagte Brunetti. Wenn er es recht bedachte, hatte er den Eindruck, daß er immer, wenn er hierher kam, etwas Ähnliches tat wie jemand, der körperlichen Schmerz erwartet - eine Injektion, einen Kälteschock: Er spannte seine Muskeln an und konzentrierte sich darauf, dem erwarteten Schmerz unter Ausschluß aller anderen Gefühle zu widerstehen. Nur daß Brunetti sich nicht auf körperlichen, sondern auf seelischen Schmerz gefaßt machte.
Sie blieben vor dem Zimmer seiner Mutter stehen, und Erinnerungen an früher zerrten wie Furien an ihm: wunderbare Mahlzeiten mit Lachen und Singen, wobei der klare Sopran seiner Mutter sie alle übertönte; der wütende, hysterische Tränenausbruch, als er ihr gesagt hatte, er wolle Paola heiraten, und in derselben Nacht ihr Klopfen an seiner Zimmertür, als sie ihm das goldene Armband brachte, das einzige noch erhaltene Geschenk von Brunettis Vater, und ihm sagte, es sei für Paola, denn das Armband solle immer der Frau des ältesten Sohnes gehören.
Eine Willensanstrengung, und die Erinnerungen flohen. Er sah nur die Tür, die weiße Tür und den weißen Rücken von Suor Immacolatas Tracht. Sie öffnete und ging hinein, ohne die Tür zu schließen.
»Signora«, sagte sie, »Signora, Ihr Sohn ist hier und will Sie besuchen.« Sie ging durchs Zimmer zu der gebeugten alten Frau, die am Fenster saß. »Signora, ist das nicht schön? Ihr Sohn kommt Sie besuchen.«
Brunetti war auf der Schwelle stehengeblieben. Suor Immacolata nickte ihm zu, und er trat ein, wobei er die Tür hinter sich offenließ, wie er es gelernt hatte.
»Guten Morgen, Dottore«, sagte die Nonne laut und deutlich. »Ich freue mich sehr, daß Sie kommen konnten, um Ihre Mutter zu besuchen. Sieht sie nicht gut aus?«
Er machte noch ein paar Schritte ins Zimmer und blieb stehen, die Hände in gebührender Entfernung vom Körper. »Buon di, mamma«, sagte er. »Ich bin's, Guido. Ich wollte dich besuchen. Wie geht es dir, mamma?« Er lächelte.
Die alte Frau ließ Brunetti nicht aus den Augen, griff nach dem Arm der Nonne, zog sie zu sich herunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Aber nein, Signora. So etwas dürfen Sie nicht sagen. Er ist ein guter Mann. Es ist Ihr Sohn, Guido. Er ist zu Besuch gekommen und will sehen, wie es Ihnen geht.« Sie streichelte die Hand der alten Frau und kniete sich neben sie, um näher bei ihr zu sein. Die alte Frau sah die Nonne an und sagte wieder etwas zu ihr, dann sah sie Brunetti an, der sich nicht bewegt hatte.
»Das ist der Mann, der mein bambino umgebracht hat«, schrie sie plötzlich. »Ich kenne ihn. Ich kenne ihn. Das ist der Mann, der mein bambino umgebracht hat.« Sie warf sich in ihrem Sessel von einer Seite zur anderen. Dann kreischte sie mit erhobener Stimme erneut los:
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