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Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Titel: Brunetti 03 - Venezianische Scharade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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»Hilfe, Hilfe, er ist zurückgekommen und will alle meine bambini umbringen.«
    Suor Immacolata schlang die Arme um die alte Frau, hielt sie fest und flüsterte ihr etwas ins Ohr, aber die Angst und der Zorn der Frau waren durch nichts zu beruhigen. Sie stieß die Nonne mit solcher Kraft weg, daß sie zu Boden fiel.
    Suor Immacolata erhob sich rasch auf die Knie und drehte sich zu Brunetti um. Sie schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung zur Tür. Brunetti ging langsam, die Hände immer noch gut sichtbar vor sich, rückwärts aus dem Zimmer und machte die Tür zu. Drinnen hörte er die Stimme seiner Mutter minutenlang laut kreischen, bevor sie nach und nach ruhiger wurde.
    Dazu hörte er als leise Untermalung die sanftere, tiefere Stimme der jungen Frau, die beruhigend und tröstend die Angst der alten Frau allmählich vertrieb. Es gab kein Fenster im Gang, und so stand Brunetti da und starrte die Tür an.
    Nach etwa zehn Minuten kam Suor Immacolata heraus und stellte sich neben ihn. »Es tut mir leid, Dottore. Ich dachte wirklich, es ginge ihr diese Woche besser. Seit sie die Kommunion empfangen hatte, war sie ganz ruhig.«
    »Ist schon gut, Schwester. So etwas passiert eben. Sie haben sich hoffentlich nicht weh getan, oder?«
    »Nein, nein. Armes Ding, sie wußte nicht, was sie tat. Nein, mir ist nichts passiert.«
    »Braucht sie irgend etwas?« fragte er.
    »Nein, sie hat alles, was sie braucht.« Brunetti hatte den Eindruck, seine Mutter hatte nichts von dem, was sie brauchte, aber vielleicht lag das nur daran, daß es nichts mehr gab, was sie noch gebraucht hätte oder je wieder brauchen würde.
    »Sie sind sehr gütig, Schwester.«
    »Der Herr ist gütig, Dottore. Wir stehen nur in seinem Dienst.«
    Brunetti fand keine Worte. Er streckte die Hand aus und schüttelte die ihre, hielt sie sekundenlang in der seinen und legte dann seine andere darüber. »Vielen Dank, Schwester.«
    »Der Herr beschütze Sie und verleihe Ihnen Kraft, Dottore.«

16
    E ine Woche war vergangen, und Maria Lucrezia Pattas Geschichte war nicht mehr die Sonne, um die sich die Questura in Venedig drehte. Zwei weitere Minister waren am Wochenende zurückgetreten, wobei jeder energisch geleugnet hatte, daß seine Entscheidung auch nur entfernt etwas mit der Nennung seines Namens im Zusammenhang mit den neuesten Bestechungsund Korruptionsskandalen zu tun hatte. Gewöhnlich konnten die Mitarbeiter der Questura, wie alle Italiener, über so etwas nur gähnen und blätterten weiter zur Sportseite, aber da einer dieser beiden zufällig der Justizminister war, interessierte man sich für die Meldung, und sei es nur, um darüber zu spekulieren, welche Köpfe wohl demnächst die Stufen des Quirinale hinunterrollen würden.
    Obwohl es einer der größten Skandale in Jahrzehnten war - und wann hatte es schon einen kleinen Skandal gegeben? -, ging die öffentliche Meinung dahin, daß bald wieder alles im Sande verlaufen würde, insabbiato, wie all die anderen Skandale der Vergangenheit. Hatte ein Italiener dieses Thema erst einmal aufgegriffen, war er praktisch nicht mehr zu bremsen, und es folgte gewöhnlich eine Aufzählung all der Fälle, die erfolgreich vertuscht worden waren: Ustica, P2, der Tod von Papst Johannes Paul I., Sindona. In solch schwindelerregenden Höhen konnte Maria Lucrezia Patta kaum mithalten, mochte ihr Abgang aus der Stadt auch noch so bühnenreif gewesen sein, und so ging das Leben allmählich wieder seinen normalen Gang. Die einzige Neuigkeit war, daß der Transvestit, den man letzte Woche in Mestre gefunden hatte, als Direktor der Banca di Verona identifiziert worden war, wer hätte das gedacht, ein Bankdirektor, du lieber Himmel!
    Eine Sekretärin vom Paßamt ein paar Häuser weiter hatte heute morgen in einer Bar gehört, Mascari sei in Mestre ziemlich bekannt gewesen, und was er treibe, wenn er auf seine Geschäftsreisen ging, sei schon seit Jahren ein offenes Geheimnis. Weiterhin war aus einer anderen Bar zu erfahren, daß seine Ehe gar keine richtige Ehe gewesen sei, sondern nur Tarnung, weil er bei einer Bank arbeitete. Hier warf jemand ein, hoffentlich habe seine Frau wenigstens dieselbe Kleidergröße, warum sie sonst heiraten? Einer der Obstverkäufer an der Rialtobrücke wußte aus zuverlässiger Quelle, daß Mascari schon immer so gewesen sei, sogar in seiner Schulzeit.
    Am späten Vormittag brauchte die öffentliche Meinung dann eine Verschnaufpause, aber schon am Nachmittag glaubte die Allgemeinheit zu

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