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Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Titel: Brunetti 03 - Venezianische Scharade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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saß an seinem Schreibtisch vor einem großen Fenster, das auf den Campo hinausging. Das Fenster war allerdings hermetisch verschlossen und das Büro so gekühlt, daß es schon beinah unbehaglich war, vor allem angesichts dessen, was man unten alles sehen konnte: nackte Schultern, Beine, Rücken, Arme, und hier war es kühl genug für Jackett und Krawatte.
    Der Anwalt blickte auf, als Brunetti hereingeführt wurde, hielt es aber nicht für nötig, zu lächeln oder aufzustehen. Er trug einen konservativen grauen Anzug mit dunkler Krawatte und ein blendendweißes Hemd. Seine blauen Augen standen weit auseinander und blickten mit entwaffnender Aufrichtigkeit in die Welt. Seine Haut war blaß, so blaß, als ob es mitten im Winter wäre: keine Ferien für jene, die im Weinberg des Rechts ackerten.
    »Setzen Sie sich, Commissario«, sagte er. »In welcher Angelegenheit wollten Sie mich sprechen?« Er streckte die Hand aus und schob ein Foto in silbernem Rahmen etwas zur Seite, um Brunetti besser im Blick zu haben und Brunetti einen besseren Blick auf das Foto zu gewähren. Es zeigte eine Frau in Santomauros Alter mit zwei jungen Männern, die ihm beide ähnlich sahen.
    »In mehreren, Avvocato«, antwortete Brunetti, während er ihm gegenüber Platz nahm. »Aber ich fange mit der Lega della Moralità an.«
    »Es tut mir leid, aber da müssen Sie meine Sekretärin bitten, Sie mit Informationen zu versorgen, Commissario. Meine Rolle ist fast ausschließlich repräsentativ.«
    »Ich weiß nicht genau, ob ich verstehe, was Sie damit meinen, Avvocato.«
    »Die Lega braucht immer eine Galionsfigur, jemanden, der den Präsidenten spielt. Aber Sie haben sicher schon festgestellt, daß wir Vorstandsmitglieder mit der praktischen Arbeit der Lega nicht viel zu tun haben. Die eigentliche Arbeit wird vom Direktor der Bank geleistet, bei der die Konten geführt werden.«
    »Und was ist dann genau Ihre Funktion?«
    »Wie ich schon sagte«, erklärte Santomauro mit dem Anflug eines Lächelns, »ich diene als Galionsfigur. Ich habe einen gewissen...
    sagen wir einen gewissen Status in der Gesellschaft, und darum wurde ich gebeten, Präsident zu werden, nur ein Titel.«
    »Wer hat Sie gebeten?«
    »Die Leute von der Bank, von der die Konten der Lega geführt werden.«
    »Wenn der Bankdirektor die Geschäfte der Lega führt, worin bestehen dann Ihre Aufgaben, Avvocato?«
    »Ich spreche für die Lega in den Fällen, in denen die Presse etwas von uns wissen will, oder wenn der Standpunkt der Lega zu einem Thema gefragt ist.«
    »Ich verstehe. Und worin noch?«
    »Zweimal im Jahr treffe ich mich mit dem Vertreter der Bank, der die Konten der Lega betreut, um die Finanzlage zu besprechen.«
    »Und wie sieht diese Lage aus, wenn ich fragen darf?«
    Santomauro legte beide Handflächen vor sich auf die Schreibtischplatte. »Wie Sie wissen, sind wir eine gemeinnützige Organisation, und es genügt uns, wenn wir es schaffen, sozusagen den Kopf über Wasser zu halten. Finanziell gesehen.«
    »Und was heißt das? Finanziell gesehen, meine ich.«
    Santomauros Ton wurde noch gelassener, seine Geduld noch hörbarer. »Daß wir es schaffen, genug Geld zu sammeln, um auch weiterhin denen unsere Wohltaten zugute kommen zu lassen, die dazu ausersehen wurden, sie entgegenzunehmen.«
    »Und wer entscheidet, wer sie entgegennimmt, wenn ich das fragen darf?«
    »Dieser Vertreter der Bank natürlich.«
    »Und die Wohnungen, die der Lega zur Verfügung stehen, wer entscheidet, wem sie gegeben werden?«
    »Dieselbe Person«, sagte Santomauro, wobei er sich ein kurzes Lächeln gestattete, bevor er hinzufügte: »Der Vorstand genehmigt üblicherweise seine Vorschläge.«
    »Und haben Sie als Präsident dabei irgendein Mitspracherecht, eine Entscheidungsbefugnis?«
    »Wenn ich davon Gebrauch machen wollte, hätte ich sie wohl. Aber wie ich Ihnen bereits sagte, Commissario, sind unsere Posten reine Ehrenämter.«
    »Was heißt das, Avvocato?«
    Bevor er antwortete, stippte Santomauro mit der Fingerspitze ein winziges Staubflöckchen von seiner Schreibtischplatte. Dann nahm er die Hand vom Tisch und schnippte das Stäubchen fort. »Wie gesagt, mein Posten ist rein repräsentativ. Ich fände es, bei den vielen Leuten, die ich hier in der Stadt kenne, nicht korrekt, wenn ich versuchen würde, bei der Auswahl derjenigen mitzuwirken, die auf irgendeine Weise von der Wohltätigkeit der Lega profitieren. Und wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, auch für die anderen zu

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