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Brunetti 04 - Vendetta

Brunetti 04 - Vendetta

Titel: Brunetti 04 - Vendetta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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verlangen, Fahrkarte ausstellen und die Strafe kassieren. Ebenso hatte sie ihren Spaß an den vielfältigen Ausreden, die sie zu hören bekam, alle inzwischen so vertraut, daß sie sie im Schlaf hätte hersagen können: Ich muß sie verloren haben; der Zug fuhr schon an, und ich wollte ihn nicht verpassen; meine Frau sitzt mit den Fahrkarten in einem anderen Abteil.
    Da ihr das alles durch den Kopf ging und sie wußte, daß sie nun am Ende der langen Fahrt, die in Turin begonnen hatte, auch noch aufgehalten würde, reagierte sie ungehalten, vielleicht sogar grob.
    »Bitte, Signore, wachen Sie auf, zeigen Sie mir Ihre Fahrkarte«, sagte sie, wobei sie sich über ihn beugte und ihn an der Schulter rüttelte. Kaum hatte sie ihn angefaßt, kippte der Mann vom Fenster weg, fiel vornüber und glitt vom Sitz auf den Boden. Im Fallen verrutschte sein Jackett, und sie sah das blutdurchtränkte Hemd. Der unverkennbare Gestank von Urin und Kot drang ihr in die Nase.
    »Maria Vergine«, japste sie und trat sehr langsam rückwärts aus dem Abteil. Von links sah sie zwei Männer auf sich zukommen, Passagiere auf dem Weg zur vorderen Tür des Wagens. »Tut mir leid, meine Herren, die vordere Tür klemmt. Benutzen Sie bitte die hintere.« An solche Dinge gewöhnt, drehten die beiden um und gingen zum hinteren Teil des Wagens zurück. Cristina Merli warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß der Zug fast das Ende der Brücke erreicht hatte. Es konnte nur noch einen Moment dauern, bis er im Bahnhof hielt. Dann würden sich die Türen öffnen, die Passagiere würden aussteigen und alle Erinnerungen an die Fahrt und an die Menschen mitnehmen, die sie unterwegs auf den Gängen des langen Zuges gesehen haben mochten. Sie hörte das vertraute Rumpeln und Poltern, mit dem der Zug aufs richtige Gleis gelenkt wurde, dann schob sich die Lok schon unters Bahnhofsdach.
    Sie war seit fünfzehn Jahren bei der Bahn und hatte so etwas noch nie erlebt, aber sie tat das einzige, was ihr einfiel: Sie ging ins Nachbarabteil und griff nach der Notbremse. Sie zog und hörte das leise ›Schnipp‹, mit dem der mürbe Faden riß. Dann wartete sie, nicht ohne eine kühle, fast wissenschaftliche Neugier, was passieren würde.

4
    Die Räder blockierten, und der Zug kam kreischend zum Stehen; in den Gängen wurden Fahrgäste zu Boden geworfen, in den Abteilen fielen Reisende ihrem wildfremden Gegenüber auf den Schoß. Sekunden später wurden Fenster heruntergezogen, Köpfe schauten heraus und wandten sich suchend nach beiden Seiten, um zu sehen, was der Grund für diesen plötzlichen Halt war. Cristina Merli öffnete das Fenster im Gang, froh über die beißende Winterluft, und streckte den Kopf hinaus, um abzuwarten, wer nun kommen würde. Es waren dann zwei Uniformierte der polizia ferroviaria, die den Bahnsteig entlanggerannt kamen. Sie beugte sich hinaus und winkte ihnen. »Hier, hierher.« Da sie nicht wollte, daß außer der Polizei noch jemand hörte, was sie zu sagen hatte, schwieg sie, bis die beiden direkt unter ihrem Fenster angekommen waren. Nachdem sie ihnen alles erklärt hatte, lief der eine in den Bahnhof zurück; der andere ging nach vorn, um dem Lokführer Bescheid zu sagen. Im Schrittempo bewegte der Zug sich nach zwei vergeblichen Ansätzen in den Bahnhof, wo er schließlich an der gewohnten Stelle auf Gleis 5 zum Stehen kam. Auf dem Bahnsteig standen ein paar Leute, die entweder jemanden abholen oder selbst in den Nachtzug nach Triest steigen wollten. Als die Türen nicht aufgingen, steckten sie die Köpfe zusammen und fragten einander, was los sei. Eine Frau, die annahm, es handle sich schon wieder um einen Streik, ließ ihren Koffer fallen und riß die Arme in die Luft. Während die Reisenden noch palavernd herumstanden und allmählich ungehalten wurden ob der unerklärten Verzögerung, in der sie einen neuerlichen Beweis für die Unzulänglichkeit der Bahn sahen, erschienen am Kopfende des Bahnsteigs sechs Polizisten mit Maschinenpistolen und schritten die Wagen entlang, wobei an jedem zweiten einer Stellung bezog. An den Fenstern tauchten weitere Köpfe auf, Männer brüllten wütend herum, aber was da auch alles gesagt wurde, niemand hörte darauf. Die Zugtüren blieben geschlossen.
    Nachdem das einige lange Minuten so gegangen war, informierte jemand den Sergente, der das Kommando führte, daß der Zug eine Sprechanlage habe. Der Sergente stieg in die Lok und begann den Passagieren zu erklären, daß im Zug ein Verbrechen

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