Brunetti 04 - Vendetta
ausgezeichnet. Da er sich vorteilhaft verheiratete, nämlich mit der Tochter eines Bankers, konnte er mit vielen der erfolgreichsten und mächtigsten Industriellen und Banker des Veneto verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Umgang pflegen. Seine Praxis wuchs in gleichem Maße wie seine Taille, und bis zu dem Jahr, in dem er fünfzig wurde, beschäftigte Avvocato Trevisan in seiner Kanzlei sieben angestellte Anwälte, von denen keiner ein Teilhaber war. Einmal in der Woche besuchte er die Messe in Santa Maria del Giglio, zweimal hatte er im Stadtrat von Venedig gesessen und sich verdient gemacht; außerdem hatte er zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, beide intelligent und schön.
Am Dienstag vor dem Fest der Madonna della Salute im November verbrachte Avvocato Trevisan den Nachmittag in Padua, wohin ihn Francesco Urbani gebeten hatte, ein Mandant, der sich vor kurzem entschlossen hatte, seine Frau nach siebenundzwanzig Ehejahren um die Trennung zu bitten. Während der zwei Stunden, in denen die beiden Männer zusammensaßen, schlug Trevisan vor, Urbani solle bestimmte Gelder außer Landes schaffen, vielleicht nach Luxemburg, und sofort seine Anteile an den beiden Fabriken in Verona verkaufen, die er mit einem anderen in stiller Teilhaberschaft besaß. Die Erlöse aus diesen Transaktionen, so Trevisan, könnten rasch den anderen Geldern außer Landes folgen.
Nach diesem Termin, den Trevisan so gelegt hatte, daß er mit seiner nächsten Verabredung zusammenpaßte, ging der Avvocato zu einem allwöchentlichen Abendessen mit einem Geschäftsfreund. Die Woche davor hatte man sich in Venedig getroffen, also war heute Padua an der Reihe. Wie alle ihre Zusammenkünfte war auch diese von der Jovialität geprägt, die aus Erfolg und Wohlstand erwächst. Gutes Essen, guter Wein und gute Nachrichten.
Trevisans Geschäftsfreund fuhr ihn zum Bahnhof, wo er wie immer den Intercity nach Triest bestieg, der um 22.15 Uhr in Venedig hielt. Obwohl er eine Fahrkarte für die I. Klasse hatte, die sich im hinteren Teil des Zuges befand, ging Trevisan durch die fast leeren Wagen nach vorn und nahm in einem Abteil der 2. Klasse Platz: Wie alle Venezianer setzte auch er sich lieber in den vorderen Teil des Zuges, um nicht den ganzen Bahnsteig entlanggehen zu müssen, wenn sie im Bahnhof Santa Lucia hielten.
Er öffnete seinen kalbsledernen Aktenkoffer auf dem gegenüberliegenden Sitz und zog einen Prospekt heraus, den er kürzlich von der Banque Generale du Luxembourg zugeschickt bekommen hatte, mit einem Zinsangebot bis zu 18 %, allerdings nicht für Konten in italienischen Lire. Aus einem Fach im Deckel des Aktenkoffers zog er einen Taschenrechner, schraubte seinen Montblanc auf und machte auf einem Blatt Papier ein paar Überschlagsrechnungen.
Die Tür zu seinem Abteil wurde aufgeschoben, und Trevisan drehte sich zur Seite, um seine Fahrkarte aus der Manteltasche zu nehmen und sie dem Schaffner zu geben. Aber die Person, die da stand, wollte von Avvocato Carlo Trevisan etwas anderes als die Fahrkarte.
Seine Leiche wurde von der Schaffnerin Cristina Merli entdeckt, während der Zug die Lagune überquerte, die Venedig von Mestre trennt. Als sie an dem Abteil vorbeiging, in dem der gutgekleidete Herr ans Fenster gelehnt schlief, wollte sie ihn zuerst nicht wegen einer Fahrkartenkontrolle wecken, doch dann fiel ihr ein, wie viele Reisende ohne Fahrkarte, auch gutgekleidete, auf dieser kurzen Fahrt über die Lagune Schlaf vortäuschten, um auf diese Weise unbehelligt 1000 Lire zu sparen. Außerdem würde er, wenn er eine Fahrkarte besaß, froh sein, geweckt zu werden, bevor der Zug im Bahnhof einfuhr, besonders wenn er das Einserboot zur Rialtobrücke erreichen wollte, das genau drei Minuten nach Ankunft des Zuges vom embarcadero losmachte.
Sie schob die Tür auf und trat in das kleine Abteil. »Buona sera, signore. Il Suo biglietto, per favore.«
Als sie später darüber berichtete, glaubte sie sich an den Geruch zu erinnern und meinte, er sei ihr gleich aufgefallen, als sie die Tür des überheizten Abteils öffnete. Sie machte zwei Schritte auf den Schlafenden zu und wiederholte mit erhobener Stimme: »II Suo biglietto, per favore.« Schlief er so fest, daß er sie nicht hörte? Unmöglich. Er hatte bestimmt keine Fahrkarte und versuchte jetzt, um das unvermeidliche Bußgeld herumzukommen. Im Lauf der Jahre, die sie in Zügen verbracht hatte, war Cristina Merli dahin gekommen, diesen Augenblick fast zu genießen: Ausweis
Weitere Kostenlose Bücher