Brunetti 05 - Acqua alta
diesen Pullover dachte, desto lieber wollte er ihn anziehen, und desto ärgerlicher wurde er bei dem Gedanken, sich den Wunsch womöglich nicht erfüllen zu können.
Er öffnete die Schranktür. Jacken, Hemden, ein Skianorak, auf dem Boden diverse Stiefel, Tennisschuhe und ein Paar Sandalen. Aber kein Pullover. Er hing auch nicht über dem Stuhl oder dem Fußende des Bettes. Brunetti zog die erste Schublade der Kommode auf und fand einen wirren Haufen Unterwäsche. In der zweiten waren Socken, meist einzelne und, wie zu befürchten stand, nur zum kleineren Teil gewaschen. Der Inhalt der dritten Schublade sah vielversprechender aus: T-Shirts mit Aufdrucken, die Brunetti jetzt nicht lesen mochte. Er wollte seinen Pullover, keine Werbung für den Regenwald. Als er das nächste T-Shirt zur Seite schob, erstarrte seine Hand.
Unter T-Shirts lagen, nur nachlässig versteckt, zwei Injektionsspritzen, noch ordentlich verpackt in ihren sterilen Plastiktütchen. Brunetti fühlte sein Herz schneller schlagen, während er die Dinger anstierte. »Madre di Dio«, sagte er laut, dann sah er rasch über die Schulter, als könnte Raffi gleich hereinkommen und seinen Vater bei der Durchsuchung seines Zimmers erwischen. Er schob die T-Shirts wieder über die Spritzen und machte die Schublade zu.
Plötzlich fiel ihm ein Sonntagnachmittag vor zehn Jahren ein, als er mit Paola und den Kindern zum Lido hinausgefahren war. Raffi war beim Herumrennen am Strand in eine Glasscherbe getreten und hatte sich die Fußsohle aufgeschnitten. Und Brunetti hatte, sprachlos angesichts der Schmerzen, die sein geliebtes Söhnchen litt, ein Handtuch um die Wunde gewickelt, ihn auf den Arm genommen und den Kilometer zum Krankenhaus am Ende des Strandes im Laufschritt zurückgelegt. Zwei Stunden hatte er, nur mit seiner Badehose bekleidet, in dem klimatisierten Warteraum gesessen, frierend vor Angst, bis ein Arzt kam und ihm sagte, mit dem Jungen sei alles in Ordnung. Sechs Stiche und eine Woche auf Krücken, aber sonst gehe es ihm gut.
Warum tat Raffi so etwas? War er, Brunetti, ein zu strenger Vater? Er hatte nie die Hand gegen seine Kinder erhoben, selten die Stimme. Die Erinnerung an seine eigene strenge Erziehung hatte genügt, um in ihm jede Anwandlung von Gewalt ihnen gegenüber zu ersticken. War er zu sehr mit seiner Arbeit, den Problemen der Gesellschaft beschäftigt, um sich mit denen der eigenen Kinder zu befassen? Wann hatte er ihnen zuletzt bei den Hausaufgaben geholfen? Und woher bekam Raffi die Drogen? Und was für welche waren es? Kein Heroin, bitte nicht!
Paola? Sie wußte meist vor ihm, was die Kinder so treiben. Ahnte sie etwas? Konnte es sein, daß sie Bescheid wußte und es ihm nicht gesagt hatte? Und wenn sie nichts wußte, sollte er ihr dann auch nichts sagen, um sie zu schonen?
Er streckte die zittrige Hand aus und setzte sich auf Raffis Bett. Er verschränkte die Hände ineinander, klemmte sie zwischen seine Knie und starrte auf den Boden. Vianello würde wissen, wer hier in der Gegend Drogen verkaufte. Würde Vianello es ihm sagen, wenn er über Raffi Bescheid wußte? Neben ihm auf dem Bett lag ein Hemd seines Sohnes. Er zog es zu sich heran und hielt es sich vors Gesicht, roch den Duft seines Sohnes, denselben, den er zum erstenmal an dem Tag gerochen hatte, als Paola mit Raffi aus dem Krankenhaus gekommen war und Brunetti sein Gesicht auf den runden Bauch des nackten Babys gedrückt hatte. Die Kehle wurde ihm eng, und er schmeckte Salz.
Lange saß er auf dem Bettrand, dachte an die Vergangenheit und verdrängte jeden Gedanken an die Zukunft außer dem, daß er es Paola würde sagen müssen. Obwohl er selbst seine Schuld schon angenommen hatte, hoffte er doch, daß sie ihn davon freisprechen, ihm versichern würde, daß er seinen Kindern Vater genug gewesen sei. Und Chiara? Wußte oder vermutete sie etwas? Und was weiter? Bei diesem Gedanken stand er auf und verließ das Zimmer. Die Tür ließ er offen, wie er sie vorgefunden hatte.
Paola saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, die Füße auf dem niedrigen Marmortisch, und las die Morgenzeitung. Das hieß, sie war schon draußen im Regen gewesen, um sie zu holen.
Brunetti blieb an der Tür stehen und sah sie umblättern. Das Radar langjährigen Zusammenlebens ließ sie aufblicken. »Guido, machst du noch etwas Kaffee?« fragte sie, dann wandte sie sich wieder der Zeitung zu.
»Paola«, begann er. Sie registrierte seinen Ton und legte die Zeitung auf ihren Schoß. »Paola«,
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