Brunetti 05 - Acqua alta
Stiefel mit?« fragte er ehrlich besorgt.
»Ich habe sie unten gelassen.«
»Gut, daß Sie daran gedacht haben. Als ich kam, reichte es mir in der Calle della Mandola schon über die Knöchel. Die Faulpelze hatten die Stege noch nicht gelegt, und ich muß jetzt über den Rialto zurück, um nach Hause zu kommen. Inzwischen reicht es mir bestimmt schon bis über die Knie.«
»Nehmen Sie doch die Nummer eins bis Sant'Angelo«, riet Brunetti. Er wußte, daß Rizzardi in der Nähe des Cinema Rossini wohnte, und von dem Bootsanleger kam er rasch dorthin, ohne durch die Galle della Mandola zu müssen, einen der am tiefsten gelegenen Teile der Stadt.
Rizzardi sah auf die Uhr und rechnete rasch nach. »Nein. Das nächste Boot fährt in drei Minuten. Das schaffe ich nie. Und dann müßte ich um diese Nachtzeit zwanzig Minuten warten. Da gehe ich lieber zu Fuß. Außerdem, wer weiß, ob sie auf der Piazza die Stege aufbauen? Wenn die Flut schlimm wird, geht sie uns da bis über die Knie.« Er wollte zur Tür, aber sein Zorn über diese jüngste von den vielen Unannehmlichkeiten, die das Leben in Venedig mit sich brachte, hielt ihn erneut zurück. »Wir sollten mal einen deutschen Bürgermeister wählen. Dann würde so was klappen.«
Brunetti lächelte, sagte gute Nacht und lauschte den Stiefelschritten des Arztes nach, die auf dem steinernen Flur allmählich leiser wurden.
»Ich gehe mal mit den Wachen reden und sehe mich unten um, Commissario«, sagte Vianello und verließ das Zimmer.
Brunetti ging zu Semenzatos Schreibtisch. »Sind Sie hier fertig?« fragte er Pavese. Der Techniker war mit dem Telefon beschäftigt, das auf der anderen Seite des Zimmers gelandet war, offenbar mit solcher Gewalt gegen die Wand geschleudert, daß es ein Stück Verputz herausgeschlagen hatte, bevor es zerbrochen auf den Boden gefallen war.
Pavese nickte, und Brunetti zog die erste Schublade auf: Bleistifte, Kugelschreiber, eine Rolle Klebeband und ein Päckchen Pfefferminz.
In der zweiten lag eine Schachtel Briefpapier mit Semenzatos Namen und Titel sowie dem Namen des Museums. Brunetti sah mit Interesse, daß der Name des Museums kleiner gedruckt war.
Die unterste Schublade enthielt einige dicke braune Aktenordner, die Brunetti herausnahm. Er legte sie auf den Schreibtisch und begann den ersten durchzublättern.
Als die Männer von der Spurensicherung ihm eine Viertelstunde später zuriefen, sie seien fertig, wußte Brunetti über Semenzato noch nicht viel mehr als bei seiner Ankunft, aber er wußte immerhin, daß das Museum in zwei Jahren eine große Ausstellung mit Zeichnungen der Renaissance plante und bereits umfangreiche Leihgaben mit Museen in Kanada, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vereinbart hatte.
Brunetti legte die Akten zurück und schloß die Schublade. Als er aufsah, stand ein Mann in der Tür. Er war klein und stämmig und trug eine Öljacke, unter der ein weißer Sanitäterkittel hervorschaute. Darunter hatte er hohe schwarze Gummistiefel an. »Sind Sie hier fertig, Commissario?« fragte der Mann und deutete mit einer Kopf bewegung auf Semenzatos Leiche. Im selben Moment erschien ein zweiter, ähnlich gekleideter und gestiefelter Mann neben ihm, der eine zusammengerollte Segeltuchbahre so lässig auf der Schulter trug, als wäre es ein Paar Ruder.
Einer der Spurensicherungsleute nickte, und Brunetti sagte: »Ja. Sie können ihn mitnehmen. Bitte gleich nach San Michele.«
»Nicht ins Ospedale?«
»Nein. Dottor Rizzardi möchte ihn nach San Michele gebracht haben.«
»Gut, Commissario«, sagte der Mann achselzuckend. Für sie waren es so oder so Überstunden, und zur Insel San Michele war es weiter als zum Krankenhaus.
»Sind Sie über die Piazza gekommen?« fragte Brunetti.
»Ja. Unser Boot liegt bei den Gondeln.«
»Wie hoch steht es da?«
»Etwa dreißig Zentimeter, würde ich mal sagen. Aber auf der Piazza sind die Stege aufgebaut, so daß man ganz gut herankommen konnte. In welche Richtung wollen Sie denn, wenn Sie hier fertig sind, Commissario?«
»Richtung San Silvestro«, antwortete Brunetti. »Ich überlege nur, wie schlimm es wohl in der Calle dei Fuseri ist.«
Der zweite Mann, größer und dünner als der erste und mit einer Mütze auf dem Kopf, unter der blonde Haarbüschel hervorlugten, antwortete: »Da waren noch keine Stege, als ich vor zwei Stunden auf dem Weg zur Arbeit durchgegangen bin.«
»Wir können den Canal Grande hinauffahren«, sagte der erste. »Dann setzen wir
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