Brunetti 06 - Sanft entschlafen
christlicher Tugend. Nicht nur, daß er sein ganzes Leben lang von vorbildlichem Fleiß war, auch seine liebende Sorge um das seelische Wohl eines jeden, mit dem er zu tun bekam, ob privat oder geschäftlich, hat Maßstäbe gesetzt, die schwerlich zu übertreffen sein werden.« Sie redete noch ein paar Minuten lang in diesem Stil weiter, aber Brunetti schaltete ab und ließ seinen Blick im Zimmer umherwandern.
Die schweren Möbel, Reliquien einer vergangenen Zeit, waren ihm wohlvertraut, alle für die Ewigkeit geschaffen, ohne jede Rücksicht auf Bequemlichkeit oder Schönheit. Nach einem raschen Rundblick über die zahlreichen Bilder, die sich alle mehr durch Frömmigkeit als durch Ästhetik auszeichneten, beschränkte Brunetti sein Augenmerk auf die wulstigen Klauenfüße der Tische und Stühle.
Er schaltete seine Aufmerksamkeit erst wieder ein, als Signorina Lerini sich dem Ende ihrer Rede näherte, die sie schon unzählige Male gehalten haben mußte. Ihr Vortrag war so routiniert, daß Brunetti sich fragte, ob sie überhaupt noch wußte, was sie sagte; vermutlich nicht.
»Ich hoffe, damit ist Ihre Neugier gestillt«, sagte sie, als sie endlich fertig war.
»Das ist gewiß ein sehr eindrucksvoller Tugendkatalog, Signorina«, sagte Brunetti. Signorina Lerini war damit zufrieden und lächelte. Ihrem Vater war sein Recht zuteil geworden.
Eines hatte Brunetti sie allerdings nicht erwähnen hören, weshalb er fragte: »Können Sie mir sagen, ob die casa di cura zu den Nutznießern der Großherzigkeit Ihres Vaters gehört?«
Ihr Lächeln schwand. »Wie meinen Sie das?«
»Hat er sie in seinem Testament bedacht?«
»Nein.«
»Könnte er ihr etwas gestiftet haben, solange er dort war?«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie mit sanfter Stimme, die deutlich machen sollte, wie wenig solche weltlichen Dinge sie interessierten; der scharfe Blick indessen, mit dem sie Brunetti bei Erwähnung einer solchen Möglichkeit ansah, verriet Argwohn und Mißvergnügen.
»Inwieweit hatte Ihr Vater noch die Kontrolle über seine Finanzen, während er dort war?« fragte Brunetti.
»Ich glaube, ich verstehe Ihre Frage nicht«, antwortete sie.
»Stand er in Verbindung mit seiner Bank, konnte er Schecks ausstellen? Oder wenn er das nicht mehr konnte, hat er Sie oder sonst jemanden, der seine Geschäfte führte, damit beauftragt, Rechnungen zu bezahlen oder Geschenke zu machen?« Noch deutlicher glaubte er die Frage nun wirklich nicht mehr formulieren zu können.
Ihr gefiel das nicht, das sah man, aber Brunetti hatte mit ihren Beteuerungen und dem Tugendgefasel keine Geduld mehr.
»Haben Sie nicht gesagt, daß Sie gegen Schwindler ermitteln, Commissario«, versetzte sie so scharf, daß Brunetti seinen eigenen Ton sofort bereute.
»Gewiß, Signorina, so ist es. Und ich wollte wissen, ob solche Leute sich vielleicht an Ihren Vater herangemacht und seine Großzügigkeit ausgenutzt haben, während er in der casa di cura war.«
»Wie hätte das vor sich gehen sollen?« fragte sie, und Brunetti sah, daß ihre rechte Hand die Finger der linken wie ein Schraubstock umspannt hielten und die Haut verdrehten wie an einem Hühnerhals.
»Wenn diese Leute andere Patienten besuchten oder sich aus welchem Grund auch immer dort aufhielten, könnten sie die Bekanntschaft Ihres Vaters gemacht haben.« Als sie nichts sagte, fragte Brunetti: »Wäre das nicht denkbar?«
»Und er hätte ihnen dann Geld geben können?« fragte sie.
»Möglich wäre es, aber nur theoretisch. Wenn in seinem Testament keine seltsamen Zuwendungen erscheinen und er keine ungewöhnlichen Verfügungen über seine Finanzen getroffen hat, glaube ich allerdings nicht, daß wir uns sorgen müssen.«
»Dann können Sie beruhigt sein, Commissario. Ich habe während seiner letzten Krankheit die Finanzen meines Vaters verwaltet, und er hat so etwas nie erwähnt.«
»Und sein Testament? Hat er während seines Aufenthalts in der casa di cura etwas daran geändert?« »Nein.«
»Und Sie sind seine Erbin?« »Ja. Ich war sein einziges Kind.«
Brunetti war mit seinen Fragen ebenso am Ende wie mit seiner Geduld. »Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihr Entgegenkommen, Signorina. Was Sie uns gesagt haben, räumt jeden Verdacht aus, den wir hätten haben können.« Nach diesen Worten stand Brunetti auf, und Vianello folgte sofort seinem Beispiel. »Mir ist jetzt viel wohler, Signorina«, fuhr er fort und lächelte so aufrichtig, wie er nur konnte. »Ihre Aussage beruhigt mich, denn sie
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