Brunetti 06 - Sanft entschlafen
es nicht mehr aushielt.«
»Und?«
»Wie gesagt, sie heiratete, dann kamen Kinder, und sie hatte für Frömmigkeit und heiliges Getue keine Zeit mehr. Danach hat sie es wohl vergessen.«
»Meinen Sie, es könnte mit Signorina Lerini ebenso gehen?« fragte Brunetti und nippte an seinem Wein.
Vianello zuckte die Achseln. »In ihrem Alter - wie alt mag sie sein, fünfzig?« fragte er. Und als Brunetti nickte, fuhr er fort: »Die würde einer doch höchstens wegen ihres Geldes heiraten. Und daß sie davon etwas hergibt, ist wohl kaum zu erwarten, oder?«
»Sie können die Frau wohl wirklich nicht leiden, Vianello.«
»Ich kann Heuchler nicht leiden. Und ich kann Frömmler nicht leiden. Da können Sie sich vorstellen, was ich von einer Kombination aus beidem halte.«
»Aber Sie haben eben gesagt, Ihre Mutter sei eine Heilige. Ist sie nicht fromm?«
Vianello nickte und schob sein Glas über den Tresen. Der Barmann füllte es und sah zu Brunetti, der ihm seines ebenfalls zum Nachfüllen hinüberreichte.
»Doch. Aber bei ihr ist es echter Glaube, nämlich an menschliche Güte.«
»Ist das nicht der ganze Sinn des Christentums?«
Vianello hatte dafür nur ein ärgerliches Schnauben übrig. »Sehen Sie, Commissario, genau das meinte ich, als ich sagte, daß meine Mutter eine Heilige ist. Sie hat außer uns dreien noch zwei andere Kinder großgezogen. Der Vater war ein Arbeitskollege von meinem, und als seine Frau starb, fing er an zu trinken und kümmerte sich zu wenig um die Kinder. Da hat meine Mutter sie einfach zu uns geholt und mit uns aufgezogen. Ohne großes Trara, ohne jedes Gerede von Großmut. Und eines Tages hat sie meinen Bruder dabei erwischt, wie er eines von den anderen Kindern hänselte und sagte, sein Vater wäre ein Säufer. Zuerst dachte ich, sie würde Luca umbringen, aber sie hat ihn nur in die Küche gerufen und ihm gesagt, daß sie sich für ihn schämt. Sonst nichts, nur daß sie sich für ihn schämt. Und Luca hat eine Woche lang geheult. Sie war freundlich zu ihm, hat ihm aber deutlich gezeigt, wie ihr zumute ist.« Vianello trank wieder einen Schluck. Er war mit den Gedanken ganz in seiner Kindheit.
»Und weiter?« fragte Brunetti.
»Wie?«
»Wie ging es weiter? Mit Ihrem Bruder, meine ich.«
»Ach so. Zwei Wochen später gingen wir alle zusammen von der Schule nach Hause, und ein paar ältere Jungen aus der Nachbarschaft fingen an, dem Jungen irgendwas nachzurufen, demselben, den Luca gehänselt hatte.«
»Und?«
»Und Luca ist förmlich ausgerastet. Zwei von ihnen hat er blutig geschlagen und einen fast bis nach Castello gejagt. Und die ganze Zeit hat er gebrüllt, so was hätten sie nicht zu seinem Bruder zu sagen.« Vianellos Augen leuchteten auf bei der Erzählung. »Als er nach Hause kam, war er ganz blutverschmiert. Ich glaube, er hatte sich bei der Prügelei einen Finger gebrochen; jedenfalls mußte mein Vater ihn ins Krankenhaus bringen.«
»Und?«
»Hm, ja, und im Krankenhaus hat Luca meinem Vater dann alles erzählt, und als sie heimkamen, hat mein Vater es meiner Mutter erzählt.« Vianello trank seinen Wein aus und zog ein paar Geldscheine aus der Tasche.
»Was hat Ihre Mutter dann getan?«
»Ach, eigentlich nichts weiter. Sie hat nur an dem Abend risotto di pesce gekocht, Lucas Leibspeise. Zwei Wochen lang hatten wir derlei nicht bekommen. Als ob sie in einen Streik getreten wäre oder so was. Oder als hätte sie uns allen wegen Lucas Äußerungen einen Hungerstreik verordnet«, fügte er laut lachend hinzu. »Aber danach konnte Luca wieder lächeln. Meine Mutter hat nie ein Wort darüber verloren. Luca war das Nesthäkchen, und ich hatte immer gedacht, er wäre ihr Liebling.« Vianello nahm das Wechselgeld und steckte es in die Tasche. »So ist sie. Keine großen Predigten. Aber eine gute Seele durch und durch.«
Er ging zur Tür und hielt sie Brunetti auf. »Stehen auf dieser Liste noch mehr Namen, Commissario? Sie werden mir nämlich nicht einreden können, daß von diesen Leuten einer zu mehr als falscher Frömmigkeit fähig ist.« Vianello drehte sich um und sah auf die Uhr über der Bar.
Brunetti, der von Frömmigkeit ebenso die Nase voll hatte wie Vianello, sagte: »Nein, ich glaube nicht. Das vierte Erbe ist gleichmäßig unter sechs Kindern aufgeteilt.«
»Und das fünfte?«
»Da wohnt der Haupterbe in Turin.«
»Bleiben nicht mehr viele Verdächtige übrig, nicht wahr, Commissario?«
»Nein, das fürchte ich auch. Und allmählich glaube ich, daß es
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