Brunetti 06 - Sanft entschlafen
gingen sie Treppen hinauf. Wie in Contessa Crivonis Wohnungsflur waren hier die Wände des Treppenhauses mit lauter Porträts geschmückt, allerdings stellten sie alle dieselbe Person dar: Jesus auf seinem immer blutiger werdenden Passionsweg bis zum Kreuzestod auf dem Kalvarienberg, nämlich dem dritten Treppenabsatz. Brunetti nahm sich die Zeit, eines der Bilder genauer zu betrachten, und sah, daß es sich nicht um die erwarteten billigen Reproduktionen aus einer frommen Zeitschrift handelte, sondern um überaus detailgenaue Buntstiftzeichnungen, die trotz der liebevoll ausgeführten Wunden, Dornen und Nägel doch immer den gleichen saccharinsüßen Ausdruck im Gesicht des leidenden Christus zeigten.
Als Brunetti seinen Blick von dem gekreuzigten Jesus wandte, sah er eine Frau in der offenen Wohnungstür stehen und glaubte im ersten Moment, er sei erneut auf Suor Immacolata getroffen, die wieder in ihren Orden eingetreten war und ihr Habit trug. Aber auf den zweiten Blick sah er, daß es eine ganz andere Frau war und die einzige Ähnlichkeit in der Kleidung lag: bodenlanger Rock und ein unförmiger schwarzer Pullover über einer hochgeschlossenen weißen Bluse. Es fehlten nur noch die Haube und ein langer Rosenkranz an der Taille, und die Nonnentracht wäre perfekt gewesen. Ihre Gesichtshaut war papieren und viel zu weiß, als sähe sie selten oder überhaupt nie das Licht des Tages. Ihre Nase war lang und rosa an der Spitze, das Kinn zu klein für das übrige Gesicht. Das eigenartig Unberührte dieses Gesichts machte es Brunetti schwer, ihr Alter zu bestimmen, aber er schätzte es auf fünfzig bis sechzig Jahre.
»Signora Lerini?« fragte Brunetti, ohne ein Lächeln an sie zu verschwenden.
»Signorina«, verbesserte sie ihn so prompt, daß man den Eindruck hatte, sie habe diese Korrektur schon oft ausgesprochen und sich vielleicht sogar darauf gefreut.
»Ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen zum Nachlaß Ihres Vaters zu stellen«, sagte Brunetti.
»Und darf ich fragen, wer Sie sind?« entgegnete sie in einem Ton, der Demut und Aggressivität zu vereinen vermochte.
»Commissario Brunetti«, antwortete er, dann drehte er sich zu Vianello um. »Und das ist Sergente Vianello.«
»Sie müssen wahrscheinlich hereinkommen«, sagte sie.
Als Brunetti nickte, machte sie den Weg frei und hielt ihnen die Tür auf. Mit einem gemurmelten »Permesso« traten sie an ihr vorbei in die Wohnung. Brunetti bemerkte sofort einen Geruch, den er, obwohl er ihm bekannt vorkam, nicht gleich einordnen konnte. In der Diele stand eine Kommode aus Mahagoni mit lauter Fotos in kunstvollen Silberrahmen darauf. Brunetti schickte einen kurzen Blick darüber und sah wieder weg, aber dann schaute er doch noch einmal genauer hin. Alle Abgebildeten trugen fromme Gewänder der einen oder anderen Art: Bischöfe, Kardinale, vier linkische Nonnen in einer Reihe, sogar der Papst. Während die Frau sich anschickte, sie in ein anderes Zimmer zu führen, bückte Brunetti sich ein wenig, um sich die Fotos genauer anzusehen. Alle waren signiert, viele mit Widmungen für »Signorina Lerini«; ein Kardinal ging gar so weit, sie als »Benedetta, geliebte Schwester in Christo« zu bezeichnen. Brunetti hatte das seltsame Gefühl, sich im Zimmer eines Teenagers zu befinden, dessen Wände mit riesigen Postern von Rockstars tapeziert waren, auch sie in den irren Kostümen ihrer Profession.
Rasch eilte er Signorina Lerini und Vianello nach und folgte ihnen in ein Zimmer, das auf den ersten Blick eine Kapelle zu sein schien, sich aber bei näherem Hinsehen als Wohnzimmer entpuppte. In einer Ecke stand eine hölzerne Madonnenfigur, zu deren beiden Seiten je sechs hohe Kerzen brannten, von denen der Geruch ausging, den Brunetti nicht sofort erkannt hatte. Vor der Statue stand ein Betpult, ohne weiches Kissen auf der hölzernen Kniebank.
An einer anderen Wand stand ein Altar anderer Art, offensichtlich für ihren verstorbenen Vater; zumindest für das Foto eines stiernackigen Mannes im dunklen Straßenanzug, der wichtigtuerisch an einem Schreibtisch saß und die Hände vor sich gefaltet hatte. Statt von Kerzen wurde das Bild durch zwei sanfte Strahler angeleuchtet, die irgendwo zwischen den Deckenbalken versteckt waren; Brunetti hatte den starken Verdacht, daß sie Tag und Nacht brannten.
Signorina Lerini ließ sich auf einem Stuhl nieder, setzte sich aber nur auf die Kante, den Rücken aufrecht und so gerade wie ein Schwert.
»Ich möchte Ihnen als erstes mein
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