Brunetti 06 - Sanft entschlafen
auch nicht viele Verdachtsmomente gibt.«
»Sollen wir überhaupt noch in die Questura zurück?« fragte Vianello, wobei er diesmal den Ärmel zurückschob und auf seine eigene Uhr sah.
Es war Viertel nach sechs. »Nein, den Weg können wir uns wohl sparen«, antwortete Brunetti. »Dann kommen Sie wenigstens mal zu einer vernünftigen Zeit nach Hause, Sergente.«
Vianello lächelte und wollte etwas sagen, besann sich kurz, gab dann aber doch zu: »Mehr Zeit fürs Fitneßstudio.«
»Hören Sie mir bloß damit auf«, versetzte Brunetti mit einer Miene gespielten Entsetzens.
Vianello lachte laut, als er die ersten Stufen der Accademiabrücke hinaufging, und Brunetti schlug den Heimweg über den Campo San Barnaba ein.
Auf diesem campo war es, als er gerade vor der frisch restaurierten Kirche stand und zum erstenmal ihre Fassade im neuen Glanz sah, daß Brunetti der Gedanke kam. Er bog in die calle neben der Kirche ein und hielt beim letzten Haus vor dem Canal Grande an.
Die Tür sprang beim zweiten Klingeln auf, und er betrat den riesigen Innenhof des Palazzos seiner Schwiegereltern. Luciana, die schon Dienstmädchen bei der Familie gewesen war, bevor Brunetti und Paola sich kennenlernten, öffnete die Eingangstür oberhalb der Treppe und begrüßte ihn freundlich lächelnd: »Buona sera, dottore.«
»Buona sera, Luciana. Schön, Sie wiederzusehen«, sagte Brunetti und gab ihr seinen Mantel, wobei ihm bewußt wurde, wie oft er ihn an diesem Nachmittag schon hin und her gereicht hatte. »Ich möchte gern zu meiner Schwiegermutter. Das heißt, falls sie zu Hause ist.«
Luciana ließ sich nicht anmerken, ob sein Anliegen sie überraschte. »Die Contessa liest. Aber sie wird Sie sicher gern empfangen, Dottore.« Während sie Brunetti in den Wohnflügel des Palazzos führte, fragte sie mit einer Stimme, in der echte Zuneigung lag: »Was machen die Kinder?«
»Raffi ist verliebt«, sagte Brunetti und freute sich an Lucianas herzlichem Lächeln. »Chiara auch«, fügte er hinzu und amüsierte sich diesmal über ihr entsetztes Gesicht. »Aber zum Glück ist Raffi in ein Mädchen verliebt und Chiara in das neugeborene Eisbärjunge im Berliner Zoo.«
Luciana blieb stehen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dottore, Sie sollten sich mit einer alten Frau nicht solche Scherze erlauben«, sagte sie und nahm theatralisch die andere Hand vom Herzen.
»Wer ist sie denn?« fragte sie. »Ein nettes Mädchen?«
»Sara Paganuzzi. Die wohnen unter uns. Raffi kennt sie schon von klein auf. Ihr Vater hat eine Glasmanufaktur draußen auf Murano.«
»Der Paganuzzi?« fragte Luciana ehrlich neugierig.
»Ja. Kennen Sie die Leute?«
»Nicht persönlich, aber ich kenne seine Sachen. Schön, sehr schön. Mein Neffe arbeitet auf Murano, und der sagt immer, Paganuzzi ist von den Glasmachern der beste.« Luciana blieb vor dem Studierzimmer der Contessa stehen und klopfte.
»Avanti«, hörte man die Stimme der Contessa von drinnen. Luciana öffnete die Tür und ließ Brunetti unangemeldet eintreten. Schließlich bestand wenig Gefahr, daß er die Contessa bei ungehörigem Tun oder bei der heimlichen Lektüre eines Body-Building-Magazins überraschte.
Donatella Falier sah über ihre Lesebrille hinweg zur Tür, dann legte sie ihr Buch aufgeklappt neben sich aufs Sofa, die Brille obendrauf, und erhob sich sofort. - Sie kam mit raschem Schritt zu Brunetti und hob das Gesicht, um seine zwei leichten Wangenküsse entgegenzunehmen. Brunetti wußte, daß sie schon Mitte Sechzig war, aber sie wirkte gut zehn Jahre jünger; kein weißes Haar an ihr zu sehen, und was sie an Fältchen hatte, wurde durch sorgsam aufgelegtes Make-up nahezu unsichtbar; ihr zierlicher Körper war schlank und aufrecht.
»Guido, ist etwas passiert?« fragte sie ehrlich besorgt, und Brunetti bedauerte es einen Moment lang, im Leben dieser Frau ein solcher Fremdling zu sein, daß sein bloßes Erscheinen sie gleich an Gefahr oder Unglück denken ließ.
»Nein, nein, nichts. Allen geht es gut.«
Er sah sie bei dieser Antwort sichtlich aufatmen. »Gut. Gut. Möchtest du etwas trinken, Guido?« Sie blickte zum Fenster, als wollte sie die Zeit am verbliebenen Tageslicht ablesen und danach entscheiden, was man wohl am besten zu trinken anbot, und Brunetti merkte, wie sehr es sie überraschte, daß es bereits dunkel wurde. »Wie spät ist es denn?« erkundigte sie sich.
»Halb sieben.«
»Was, tatsächlich?« Sie ging zu dem Sofa zurück, auf dem sie gesessen hatte. »Komm,
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