Brunetti 06 - Sanft entschlafen
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Da er einmal Jura studiert hatte, war er vertraut mit der Sprache, den Klauseln, mit denen Leuten, die noch nicht tot waren, irdischer Krimskrams zugeeignet, zum Nießbrauch überlassen oder in Besitz gegeben wurde. Während er die umsichtigen Formulierungen las, mußte er unwillkürlich daran denken, was Vianello über die Unmöglichkeit wirklichen Besitzens gesagt hatte, denn hier hatte er den Beweis dieser Unmöglichkeit vor sich. Alle diese Sachen waren unter der Annahme der Eigentümerschaft den Erben zugeflossen und hatten so die Illusion verewigt, bis weitere Zeit verging und auch die Erben wieder durch den Tod um ihren Besitz gebracht wurden.
Vielleicht, dachte Brunetti, hatten diese keltischen Stammesfürsten es doch richtig gemacht, wenn sie ihre sämtlichen Schätze zusammen mit ihrem Leichnam auf einen Kahn laden und das Ganze brennend aufs Meer hinaustreiben ließen. Allerdings kam ihm der Gedanke, daß diese plötzliche Ablehnung materiellen Besitzes vielleicht nichts weiter war als eine Reaktion darauf, daß er sich eine Weile in der Nähe des Finanzministers hatte aufhalten müssen, eines derart ungehobelten, gewöhnlichen und dummen Menschen, daß Reichtum einem jeden zuwider werden mußte.
Brunetti mußte darüber laut lachen, dann wandte er sich erneut den Testamenten zu.
Außer im Testament der Signorina da Pré wurde die casa di cura noch in zwei weiteren erwähnt: Signora Cristanti hatte dieser Einrichtung fünf Millionen Lire vermacht, gewiß keine Riesensumme; und Signora Galasso, deren Vermögen zum größten Teil an ihren Neffen in Turin ging, hatte dem Heim zwei Millionen zugedacht.
.Brunetti war schon zu lange bei der Polizei, um nicht zu wissen, daß Menschen für solche kleinen Beträge zu Mördern wurden, oft mehr oder weniger ungeplant, aber er hatte auch gelernt, daß ein sorgfältig planender Mörder für solche Kinkerlitzchen selten seine Entdeckung riskieren würde. Und da ein Mörder in der casa di cura sehr planvoll hätte vorgehen müssen, um unentdeckt zu bleiben, war kaum anzunehmen, daß solche Summen jemandem, der mit dem Pflegeheim zu tun hatte, Anreiz genug gewesen wären, das Risiko einzugehen und diese alten Leute umzubringen.
Signorina da Pré war nach den Schilderungen ihres Bruders eine vereinsamte alte Frau gewesen, die sich gegen Ende ihres Lebens bemüßigt gefühlt hatte, sich der Institution gegenüber erkenntlich zu zeigen, in der sie ihre letzten Jahre verbracht hatte. Da Pré hatte gesagt, niemand habe ihn davon abbringen wollen, das Testament seiner Schwester anzufechten. Brunetti konnte sich nicht vorstellen, daß jemand, der tötete, um zu erben, sich so leicht wieder um die Beute bringen lassen würde.
Er prüfte die Daten und sah, daß die Testamente, in denen die casa di cura bedacht wurde, alle mindestens ein Jahr vor dem Tod der Erblasser aufgesetzt worden waren. Von den anderen waren zwei schon mehr als fünf Jahre, das letzte sogar zwölf Jahre vor dem Ableben unterzeichnet worden. Um sich da finstere Machenschaften vorzustellen, hätte es schon stärkerer Einbildungskraft und größeren Zynismus bedurft, als Brunetti sie besaß.
Daß gar keine Verbrechen stattgefunden hatten, war für Brunetti durchaus einleuchtend, wenn auch auf leicht verdrehte Weise, denn nur indem Suor Immacolata sich heimliche Untaten in der casa di cura einbildete, Dinge, die nur sie allein sah, konnte sie ihren Entschluß rechtfertigen, den Orden zu verlassen, der von Jugend an ihre geistliche und physische Heimat gewesen war. Brunetti hatte Schuldgefühle sich schon in seltsameren Formen ausdrücken sehen, gewiß, aber selten hatte er für Schuldgefühle so wenig Anlaß gesehen. Er mußte sich eingestehen, daß er ihr nicht glaubte, und es bedrückte ihn sehr, daß sie sich den Beginn ihrer vita nuova so versauerte. Sie hätte Besseres vom Leben und von sich selbst verdient gehabt als solche jämmerlichen Hirngespinste.
Die Unterlagen, bestehend aus fünf Testamentskopien und den Notizen, die Brunetti nach seinem und Vianellos Besuch bei den verschiedenen Leuten angefertigt hatte, landeten nicht bei Signorina Elettra, sondern in seiner untersten Schreibtischschublade, wo sie weitere drei Tage ruhten.
Patta kehrte aus dem Urlaub zurück, an der Polizeiarbeit noch weniger interessiert als vorher. Brunetti nutzte das zu seinem Vorteil, indem er von Maria Testa und ihrer Geschichte nichts
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