Brunetti 06 - Sanft entschlafen
erwähnte. Der Frühling machte Fortschritte, und Brunetti besuchte seine Mutter im Pflegeheim, was für ihn um so schmerzlicher war, als er Suor Immacolatas natürliche Güte erneut sehr vermißte.
Die junge Frau machte keinen weiteren Versuch, mit ihm Verbindung aufzunehmen, und so gestattete Brunetti sich, der Tugend der Hoffnung zu frönen, der Hoffnung nämlich, daß sie ihre Geschichte aufgegeben, ihre Ängste vergessen und ihr neues Leben in Angriff genommen hatte. Einmal faßte er sogar den Entschluß, sie draußen am Lido zu besuchen, aber als er die Adresse suchte, fand er die ganzen Unterlagen nicht, in denen sie stehen mußte, und auch der Name der Leute, die ihr bei der Arbeitssuche geholfen hatten, fiel ihm nicht ein. Rossi, Bassi, Guzzi - so ähnlich hatte er geklungen, wenn Brunetti sich recht erinnerte, aber dann holte ihn der ganze Ärger ein, der mit Pattas Rückkehr in die Questura verbunden war, und er vergaß Maria Testa völlig, bis zwei Tage später das Telefon klingelte und der Mann am anderen Ende sich als Vittorio Sassi vorstellte.
»Sind Sie der Mann, mit dem Maria gesprochen hat?« fragte Sassi.
»Maria Testa?« fragte Brunetti zurück, obwohl er gleich wußte, welche Maria gemeint war.
»Suor Immacolata.«
»Ja, sie war vor ein paar Wochen bei mir. Warum rufen Sie mich an, Signor Sassi? Was gibt's?«
»Sie ist verletzt.«
»Wie? Was ist passiert?«
»Sie wurde von einem Auto angefahren.«
»Wo?«
»Hier draußen, am Lido.«
»Wo ist sie?«
»Man hat sie ins Krankenhaus gebracht. Da bin ich jetzt, aber ich kann nichts über sie erfahren.«
»Wann war das?«
»Gestern nachmittag.«
»Warum haben Sie dann so lange damit gewartet, mich anzurufen?« wollte Brunetti wissen.
Die Antwort war ein langes Schweigen.
»Signor Sassi?« rief Brunetti, und als noch immer keine Antwort kam, fragte er in sanfterem Ton: »Wie geht es ihr?«
»Schlecht.«
»Was ist passiert?«
»Das weiß niemand.«
»Wieso?«
»Sie war gestern am Spätnachmittag auf dem Heimweg von der Arbeit, mit dem Fahrrad. Wie es aussieht, hat ein Auto sie von hinten angefahren. Der Fahrer hat nicht angehalten.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein Lastwagenfahrer. Er sah sie im Straßengraben liegen und hat sie ins Krankenhaus gebracht.«
»Was hat sie für Verletzungen?«
»Ich weiß nichts Genaues. Als sie mich heute vormittag anriefen, haben sie gesagt, sie habe ein Bein gebrochen. Aber sie glauben, daß vielleicht auch ihr Gehirn verletzt ist.«
»Wer glaubt das?«
»Weiß ich nicht. Ich sage Ihnen nur, was mir der Anrufer gesagt hat.«
»Aber Sie sind jetzt im Krankenhaus?«
»Ja.«
»Woher wußte man denn dort, daß man sich mit Ihnen in Verbindung setzen sollte?« fragte Brunetti.
»Die Polizei war gestern in ihrer Pension - die Adresse hatte sie wohl in der Handtasche -, und der Inhaber hat ihr den Namen meiner Frau genannt. Er wußte noch, daß wir sie zu ihm gebracht hatten. Aber die haben mich erst heute vormittag angerufen, und da bin ich gleich hergekommen.«
»Warum rufen Sie mich jetzt an?«
»Als sie vorigen Monat nach Venedig gefahren ist, haben wir gefragt, wohin sie will, und sie hat gesagt, daß sie mit einem Polizisten namens Brunetti sprechen möchte. Sie hat nicht gesagt, worum es ging, und wir haben auch nicht gefragt, aber wir dachten, na ja, wir dachten eben, wenn Sie Polizist sind, wollen Sie sicher wissen, was ihr zugestoßen ist.« »Danke, Signor Sassi«, sagte Brunetti, dann fragte er: »Wie hat sie sich verhalten, nachdem sie bei mir war?«
Falls Sassi die Frage merkwürdig fand, war es seiner Stimme nicht anzuhören. »Wie immer. Warum?«
Brunetti antwortete darauf lieber nicht und fragte statt dessen: »Wie lange bleiben Sie dort?«
»Nicht mehr lange. Ich muß wieder zur Arbeit, und meine Frau hat die Enkel bei sich.«
»Wie heißt denn ihr Arzt?«
»Das weiß ich nicht, Commissario. Hier herrscht das reine Chaos. Die Schwestern sind heute im Streik, und man findet kaum jemanden, der einem eine Auskunft geben kann. Und über Maria scheint überhaupt niemand etwas zu wissen. Könnten Sie nicht herkommen? Vielleicht hört man Ihnen wenigstens zu.«
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
»Sie ist eine sehr gute Frau«, sagte Sassi.
Nachdem Sassi aufgelegt hatte, rief Brunetti unten bei Vianello an und bat ihn, ein Boot zu organisieren und in fünf Minuten mit ihm zum Lido zu fahren. Dann ließ er sich mit dem Krankenhaus am Lido verbinden und verlangte den Arzt in
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