Brunetti 06 - Sanft entschlafen
stiehlt?«
»Oder lügt.«
»Nein, das täte sie nie, weder das eine noch das andere«, antwortete der Pater prompt und ohne jeden Vorbehalt.
»Und welche Vorstellung hat sie von der Welt?«
»Ich fürchte, diese Frage verstehe ich nicht«, sagte er mit leichtem Kopfschütteln.
»Wie gut kann sie - Ihrer Meinung nach - die menschliche Natur beurteilen? Wäre sie eine verläßliche Zeugin?«
Nach langem Nachdenken meinte der Pater: »Ich glaube, das hinge davon ab, worüber sie urteilen sollte. Oder über wen.«
»Das heißt?«
»Ich halte sie für - hm - erregbar könnte man es vielleicht nennen. Oder gefühlsbetont. Suor Immacolata ist sehr schnell bereit, das Gute im Menschen zu sehen, eine Eigenschaft, die nicht hoch genug zu schätzen ist. Aber«, und hier umwölkte sich sein Gesicht, »oft ist sie ebensoschnell bereit, Böses zu argwöhnen.« Er hielt inne, um seine nächsten Worte abzuwägen. »Was ich jetzt sage, könnte leider nach einem Vorurteil der übelsten Art klingen.« Der Pater legte eine Pause ein, und man sah ihm deutlich an, wie unangenehm es ihm war, das zu sagen. »Suor Immacolata kommt aus dem Süden, und ich glaube, von daher hat sie bestimmte Vorstellungen von der Menschheit, oder der menschlichen Natur.« Padre Pio wandte den Blick ab, und Brunetti sah ihn an seiner Unterlippe nagen, als wollte er sich dieses Ärgernis abbeißen und sich so für das eben Gesagte bestrafen.
»Wäre das Kloster nicht ein unpassender Ort für solche Ansichten?«
»Nicht wahr?« antwortete der Pater sichtlich verlegen. »Ich weiß nicht, wie ich ausdrücken soll, was ich sagen möchte. Wenn ich es in theologischen Begriffen erklären dürfte, würde ich sagen, es mangelt ihr an Hoffnung. Wenn sie mehr Hoffnung hätte, ich glaube, dann hätte sie auch mehr Vertrauen in das Gute im Menschen.« Er schwieg und befingerte seine Rosenkranzperlen. »Aber mehr als das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Commissario.«
»Wegen der Gefahr, etwas preiszugeben, was ich nicht wissen soll?«
»Was Sie nicht wissen dürfen«, sagte der Pater im Ton der absoluten Gewißheit. Als er Brunettis Blick sah, fügte er hinzu: »Ich weiß, daß manche Menschen das eigenartig finden, vor allem in der heutigen Welt. Aber es ist eine Tradition, die so alt ist wie die Kirche selbst, und ich finde, es ist eine der Traditionen, die wir mit aller Kraft erhalten sollten. Und die wir erhalten müssen.« Sein Lächeln wirkte traurig. »Mehr darf ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Aber lügen würde sie nicht?«
»Nein. Da können Sie ganz sicher sein. Niemals. Sie könnte etwas falsch auslegen oder übertreiben, aber gewollt lügen, das täte Suor Immacolata nie.«
Brunetti stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Padre«, sagte er und streckte die Hand aus.
Der Händedruck des Paters war fest und trocken. Er begleitete Brunetti zur Tür, und als Brunetti sich dort noch einmal bedankte, sagte er nur: »Gott mit Ihnen.«
Als Brunetti in den Innenhof trat, sah er den Gärtner an der hinteren Mauer des Klosters auf der Erde knien und mit den Händen an den Wurzeln eines Rosenstrauchs herumgraben. Der alte Mann sah ihn und drückte eine Hand flach auf den Boden, um sich hochzustemmen, aber Brunetti rief ihm zu: »Schon gut, Bruder, ich finde selbst hinaus.« Und noch nachdem er schon draußen war, wehte ihm der Fliederduft, einer Segnung gleich, durch die calle nach, bis er um die nächste Ecke bog.
Am nächsten Tag war der zur Zeit amtierende Finanzminister zu Besuch in der Stadt, und obwohl es ein ganz privater Besuch war, mußte die Polizei für die Dauer seines Aufenthalts doch für seine Sicherheit sorgen. Deswegen, und weil eine nachwinterliche Grippeepidemie fünf Polizisten ans Bett fesselte, einen sogar im Krankenhaus, landeten die vollständigen Testamente der fünf Menschen, die im Pflegeheim San Leonardo verstorben waren, unbemerkt auf Brunettis Schreibtisch. Einmal dachte er noch daran und fragte sogar Signorina Elettra danach, worauf er aber nur die knappe Antwort erhielt, daß sie schon seit zwei Tagen auf seinem Schreibtisch lägen.
Erst als der Minister wieder nach Rom und in den Augiasstall des Finanzministeriums zurückgekehrt war, fielen Brunetti die Testamentskopien wieder ein, und das auch nur, weil sie ihm bei der Suche nach irgendwelchen vermißten Personalakten zufällig zwischen die Finger gerieten. Er beschloß, sie nur kurz zu überfliegen und sie dann Signorina Elettra mit der
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