Brunetti 06 - Sanft entschlafen
hatten: das Hotel Bauer Grünwald, die Banca Cattolica, den Bahnhof - und beklagte nicht zum erstenmal die Folgekosten menschlicher Habgier.
Er kam von der letzten Brücke herunter auf die Piazza, und alle Trübsal floh, vertrieben von der Macht einer Schönheit, die nur der Mensch erschaffen konnte. Der Frühlingswind spielte mit den riesigen Fahnen vor der Basilika, und Brunetti mußte lächeln, als er sah, wieviel imposanter der über sein scharlachrotes Feld stürmende Markuslöwe war als die drei parallelen Streifen Italiens.
Er schlenderte über die Piazza, ging unter der Loggetta hindurch, dann in die Bibliothek, einen Ort, der selten Touristen sah, was nicht die geringste seiner vielen Attraktionen war. Er ging zwischen den beiden Riesenstatuen hindurch, zeigte an der Rezeption seinen Leserausweis und begab sich weiter in die Referenzbibliothek. Dort suchte er im Hauptkatalog das Stichwort Opera Pia, und nach einer Viertelstunde hatte er Verweise auf vier Bücher und sieben Artikel in verschiedenen Zeitschriften.
Als er der Bibliothekarin seine Anforderungszettel gab, bat sie ihn lächelnd, irgendwo Platz zu nehmen, weil es etwa zwanzig Minuten dauern werde, alles zusammenzusuchen. Lautlos, denn er befand sich an einem Ort, wo Umblättern schon eine Ruhestörung war, suchte er sich einen Platz an einem der langen Tische. Während er dort wartete, zog er wahllos einen Band aus seiner Klassikerreihe heraus und begann den lateinischen Text zu lesen, nur aus Neugier, ob und wieviel von dieser Sprache noch bei ihm hängengeblieben war. Er hatte die Briefe Plinius' des Jüngeren erwischt und blätterte langsam darin nach dem Brief mit der Schilderung des Vesuvausbruchs, bei dem der Onkel des Autors ums Leben gekommen war.
Brunetti war halb durch diesen Bericht, erstaunt einerseits über das geringe Interesse des Autors an einem Ereignis, das als eines der bedeutendsten in der Antike galt, andererseits über sich selbst, weil er noch so viel von der Sprache jener Zeit behalten hatte, als die Bibliothekarin kam und ihm einen Stapel Bücher und Zeitschriften auf den Tisch legte.
Er bedankte sich mit einem Lächeln, stellte Plinius in seine staubige Versenkung zurück und nahm sich die Bücher vor. Die ersten zwei Traktate schienen von Mitgliedern der Opera Pia zu stammen, zumindest aber von Leuten, die der Organisation und ihren Zielen wohlgesinnt waren. Brunetti blätterte sie rasch durch, merkte, wie er von dem schwülstigen Vokabular und dem ewigen Gerede von »heiliger Mission« schon ganz kribbelig wurde, und legte sie beiseite. Die beiden anderen waren in der Tendenz ablehnender und - vielleicht deswegen - interessanter.
Opera Pia, gegründet 1918 von Don Paolo Echeveste, einem Priester, der sich auf adlige Abkunft berief, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, der katholischen Kirche wieder mehr politischen Einfluß zu verschaffen.
Eines ihrer erklärten Ziele war die Ausweitung christlicher Prinzipien - und somit christlicher Macht - in der säkularen Welt. Zu diesem Zweck waren ihre Mitglieder gehalten, die Lehren des Ordens und der Kirche an ihrem Arbeitsplatz, zu Hause und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu verbreiten.
Um dies zu fördern, war der Orden nach militärischem Vorbild organisiert und alle Macht sicherheitshalber in den höheren Rängen konzentriert, wozu noch ein erfundener halbmilitärischer Jargon gehörte, der für ein gewisses Zusammengehörigkeits- und, woran Brunetti nicht zweifelte, Überlegenheitsgefühl sorgen sollte. Ledige Mitglieder wurden offenbar angehalten, all ihren Besitz dem Orden zu übertragen, während Verheiratete nur »Geschenke« zu machen hatten. Alle aber bekamen ein Testamentsformular ausgehändigt, das ihnen die Möglichkeit gab, alles, was sie besaßen, dem Orden zu vermachen. Als Brunetti las, daß Sex generell mißbilligt wurde, mußte er einen Moment von dem Buch aufsehen. Es ging doch immer entweder um Sex oder Geld oder Macht; man nahm ihnen das Geld und verbot ihnen den Sex, und schon war klar, worum es bei Opera Pia ging.
Die Mitgliedschaft im Orden war geheim. Und obwohl seine Sprecher, lauter Männer natürlich, vehement und beharrlich bestritten, Opera Pia sei deswegen ein Geheimbund, blieb eine gewisse Undurchschaubarkeit der Ziele und Aktivitäten konsequent erhalten, und die genaue Zahl der Mitglieder konnte niemand nennen. Brunetti nahm an, daß die übliche Rechtfertigung dafür auch hier lautete:
Existenz eines »Feindes«, der die
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