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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Vernichtung des Ordens plane - ganz zu schweigen von der moralischen Ordnung des Universums. Wegen des politischen Einflusses, den viele Mitglieder hatten, und dank der schützenden Hand des amtierenden Papstes zahlte Opera Pia weder Steuern, noch wurde ihr in irgendeinem der Länder, in denen der Orden zur Zeit seinem heiligen Geschäft nachging, juristisch auf die Finger gesehen. Von den vielen Geheimnissen, die den Orden umgaben, waren seine Finanzen das undurchdringlichste.
    Brunetti durchblätterte schnell den Rest des ersten Buchs mit seinen Abhandlungen über »Rekruten«, »Auserwählte« und »Treuepflichten« und wandte sich dem zweiten zu. Hier fand er viel Spekulation, noch mehr Argwohn, aber kaum Fakten und keine Beweise für Unrechtstaten. Die Bücher schienen wenig mehr zu sein als die Kehrseite der hell glänzenden Medaille, die von den Anhängern des Ordens vorgezeigt wurde: viel Eifer und wenig Substanz.
    Er nahm sich die Zeitschriften vor, mußte aber sogleich irritiert feststellen, daß alle von ihm gesuchten Artikel sorgsam mit einer Rasierklinge herausgetrennt worden waren. Er ging damit durch den Hauptlesesaal zurück zu der Bibliothekarin, die immer noch an ihrem Tisch saß, während zwei verschwommene Scholaren an den Ufern der Lichtpfützen um die Leselampen herum vor sich hin dösten. »Hier sind Sachen herausgeschnitten worden«, sagte Brunetti, indem er ihr die Zeitschriften auf den Tisch legte.
    »Wieder mal die Abtreibungsgegner?« fragte sie ohne Überraschung, dafür um so leidgeplagter.
    »Nein, Leute von Opera Pia.«
    »Noch viel schlimmer«, meinte sie gelassen und zog die Zeitschriften zu sich heran. Jede klappte beim Aufschlagen wie von selbst bei der fehlenden Seite auf. Die Bibliothekarin schüttelte den Kopf über dieses Werk der Zerstörung und die Sorgfalt, mit der es vollbracht worden war. »Ich weiß nicht, ob wir das Geld haben, um von allen immer wieder Ersatzexemplare zu kaufen«, sagte sie, während sie die Zeitschriften behutsam auf die Seite legte, wie um ihnen nicht weiteren Schmerz zuzufügen.
    »Passiert das oft?«
    »Erst in den letzten Jahren«, antwortete sie. »Scheint die neueste Protestform zu sein. Die vernichten jeden Artikel, in dem etwas steht, womit sie nicht einverstanden sind. Vor Jahren gab es, glaube ich, mal einen Film in dieser Art, über Leute, die Bücher verbrannten.«
    »Das tun wir ja wenigstens nicht«, sagte Brunetti lächelnd, um wenigstens diesen kleinen Trost anzubringen.
    »Noch nicht«, erwiderte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit einem der Studenten zu der an ihren Tisch gekommen war.
    Draußen auf der Piazza blieb Brunetti stehen und blickte auf das Bacino di San Marco hinaus, dann drehte er sich um und betrachtete die lächerlichen Kuppeln der Basilika. Er hatte einmal etwas über einen Ort in Kalifornien gelesen, wohin die Schwalben jedes Jahr am selben Tag zurückkehrten. Der St.-Josephs-Tag? Hier war es so ähnlich: Die Touristen schienen alle in der zweiten Märzwoche wiederzukommen, wie von einem inneren Kompaß speziell an diese Gestade geführt. Es wurden jedes Jahr mehr, und jedes Jahr erwies die Stadt sich ihnen zunehmend gefälliger als ihren eigenen Bürgern. Obsthändler machten dicht, Schuhmacher schlössen ihre Werkstätten und verwandelten sich in Souvenirverkäufer mit Masken, maschinell gefertigten Spitzen und Plastikgondeln im Angebot.
    Brunetti erkannte seine hundsmiserable Laune, die sich durch die Begegnung mit Opera Pia zweifellos noch verschlimmert hatte, und wußte, daß er dagegen nur etwas tun konnte, indem er zu Fuß ging. Er machte sich auf den Weg an der Riva degli Schiavoni entlang, rechts von ihm das Wasser, links die Hotels. Er schlug in der Spätnachmittagssonne eine rasche Gangart an, und als er die erste Brücke erreichte, fühlte er sich schon besser. Dann sah er die Möwen unelegant aufs Wasser platschen und fühlte, wie sein Herz sich aufschwang und im Kielwasser eines vorbereitenden Vaporetto nach San Giorgio hinübersegelte.
    Der Wegweiser zum Ospedale Civile brachte ihn auf die Idee, und zwanzig Minuten später war er dort. Die diensthabende Schwester der Station, auf die man Maria Testa gelegt hatte, sagte ihm, daß deren Zustand unverändert sei und sie jetzt in einem Privatzimmer liege, Nummer 317, den Gang hinauf und dann rechts.
    Vor Zimmer 317 fand Brunetti einen leeren Stuhl, auf dem, mit den aufgeklappten Seiten nach unten, das neueste Mickymaus-Heftchen lag. Ohne nachzudenken, ohne

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