Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Jahrzehnten mit Paola schon an den Extremismus der meisten ihrer Ansichten gewöhnt; und er hatte gelernt, daß sie beim Thema Kirche sofort in Weißglut geriet und selten noch klar denken konnte. Aber recht hatte sie immer.
»Ich weiß nicht, ob sie die Finger drin haben, Paola. Ich weiß nur, was Miottis Bruder gesagt hat, nämlich daß gemunkelt wird, der Padre sei dort Mitglied.«
»Na also, genügt das nicht?«
»Wofür?«
»Um ihn einzusperren.«
»Wofür einsperren, Paola? Dafür, daß er in Religionsfragen anderer Meinung ist als du?«
»Komm mir nicht mit solchen Spitzfindigkeiten, Guido«, sagte sie und drohte ihm mit der Nähnadel, um zu zeigen, wie ernst es ihr war.
»Ich bin nicht spitzfindig. Ich versuch's nicht mal zu sein. Aber ich kann nicht hingehen und einen Priester verhaften, nur weil gemunkelt wird, daß er einer religiösen Organisation angehört.«
Paolas Schweigen war zu entnehmen, daß sie das wohl oder übel akzeptieren mußte, aber die Wut, mit der sie die Nadel in seine Hemdmanschette stach, zeigte auch, wie ärgerlich sie das fand. »Du weißt, was das für ein machthungriges Gesindel ist«, sagte sie.
»Das mag ja stimmen. Ich weiß, daß viele Leute das glauben, aber ich habe keine konkreten Beweise dafür.«
»Hör doch auf, Guido, über Opera Pia weiß jeder Bescheid.«
Er richtete sich ein wenig auf. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Wieso?« fragte sie mit einem zornigen Blick.
»Ich meine, daß alle glauben, sie wüßten über Opera Pia Bescheid, aber es ist immerhin ein Geheimbund. Ich habe meine Zweifel, ob jemand außerhalb der Organisation wirklich viel darüber weiß. Jedenfalls nichts Verläßliches.«
Brunetti beobachtete, wie Paola sich das durch den Kopf gehen ließ, die Nadel unbewegt in der Hand, den Blick starr auf seinem Hemd. So hitzig sie beim Thema Religion auch werden konnte, sie war doch auch Wissenschaftlerin, und darum hob sie jetzt den Kopf und sah zu ihm herüber. »Vielleicht hast du recht«, räumte sie sichtlich ungern ein, dann fügte sie hinzu: »Aber ist es nicht merkwürdig, daß so wenig darüber bekannt ist?«
»Wie gesagt, es ist eine Geheimorganisation.«
»Die Welt ist voller Geheimorganisationen, aber die meisten sind doch nur ein Witz: Freimaurer, Rosenkreuzer und alle diese Satanskulte, die sie in Amerika dauernd erfinden. Aber vor Opera Pia haben die Leute wirklich Angst. Wie vor einem Terrorkommando.«
»Findest du das nicht ein bißchen übertrieben, Paola?«
»Du weißt, daß ich dieses Thema nicht rational angehen kann, also verlange es bitte nicht von mir.« Sie schwiegen beide eine Weile, dann fuhr sie fort: »Aber es ist wirklich merkwürdig, wie sie es geschafft haben, sich mit so einem Ruf zu umgeben und dabei trotzdem fast völlig geheim zu bleiben.« Sie legte das Hemd weg und steckte die Nadel in das Kissen neben ihr. »Was wollen die eigentlich?«
»Jetzt redest du wie Freud«, sagte Brunetti lachend. »Was will das Weib?«
Sie lachte. Verachtung für Freud und alles, was er je von sich gegeben hatte, war Teil des geistigen Kitts, der sie zusammenhielt. »Aber im Ernst. Was glaubst du, worauf die es wirklich abgesehen haben?«
»Da fragst du mich zuviel«, mußte Brunetti zugeben. Und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, antwortete er: »Macht vermutlich.«
Paola zwinkerte ein paarmal mit den Lidern und schüttelte den Kopf. »Das ist für mich immer so beängstigend, daß jemand Macht haben möchte.«
»Nur weil du eine Frau bist. Es ist das einzige, wovon Frauen glauben, sie wollten es nicht. Aber wir wollen.«
Sie sah auf, schon halb lächelnd, weil sie glaubte, er mache wieder einen Scherz, doch Brunetti fuhr mit vollkommen ernster Miene fort: »Wirklich, Paola. Ich glaube, Frauen können nicht verstehen, wie wichtig es für uns Männer ist Macht zu haben « Er sah daß sie etwas einwenden wollte und schnitt ihr das Wort ab. »Nein, nein, das hat nichts mit Uterusneid zu tun. Jedenfalls glaube ich das nicht - von wegen Minderwertigkeitsgefühl, weil wir keine Kinder bekommen können und das auf andere Weise ausgleichen müssen.« Brunetti verstummte; so hatte er das noch nie ausgesprochen, nicht einmal vor Paola. »Vielleicht ist es nichts weiter, als daß wir einfach kräftiger sind und ungestraft andere herumschubsen können.«
»Das ist aber sehr vereinfacht, Guido.«
»Ich weiß. Was nicht heißt, daß es falsch ist.«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Ich begreife es einfach nicht. Am
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