Brunetti 08 - In Sachen Signora Brunetti
selbst als erster in den Wagen gesprungen. Bonaventura wiederum behauptete, von Sandi mit vorgehaltener Pistole zum Einsteigen gezwungen worden zu sein. Der dritte Mann wollte nichts gesehen haben.
In der Frage der Arzneimittellieferungen tat Candiani sich weit schwerer damit, die Unterstellungen der Strafverfolgungsbehörden zurückzuweisen. Sandi wiederholte seine Aussage und erweiterte sie mit den Namen und Adressen der Nachtschichtarbeiter, die eigens kamen, um die gefälschten Medikamente abzufüllen und zu verpacken. Da diese Leute ihren Lohn in bar erhielten, gab es dafür keine Bankbelege, aber Sandi legte ihre Arbeitszeitkarten mit Namen und Unterschriften vor. Außerdem übergab er der Polizei eine ausführliche Aufstellung früherer Sendungen mit Datum, Inhalt und Bestimmungsorten.
An diesem Punkt griff das Gesundheitsministerium ein. Die Firma Interfar wurde geschlossen, ihre Gebäude wurden versiegelt, und Inspektoren öffneten und untersuchten die Schächtelchen, Fläschchen und Tuben. Alle im Hauptgebäude der Fabrik befindlichen Medikamente entpuppten sich als genau das, was auf den Packungen stand, aber in einem Nebenlager fanden sich kistenweise Sachen, die sich bei der Untersuchung als medizinisch wertlos erwiesen. Drei Kisten waren mit Plastikfläschchen gefüllt, die als Hustenmittel deklariert waren. Doch bei der Analyse zeigte sich, daß sie ein Gemisch aus Zucker, Wasser und Frostschutzmittel enthielten, ein Gebräu, das jeden, der es einnahm, krank machen oder gar töten konnte.
Andere Kisten enthielten Hunderte von Packungen mit Medikamenten, deren Verfallsdatum längst abgelaufen war; in wieder anderen befanden sich Verbandsmull und chirurgisches Nahtmaterial, deren Verpackungen bei Berührung zerfielen, so lange hatten sie unbenutzt in irgendwelchen Lagern herumgelegen. Sandi legte die Lieferscheine und Frachtpapiere für diese Kisten vor, die für Länder bestimmt waren, in denen Hunger, Krieg und Pest hausten, sowie Preisverzeichnisse für die internationalen Hilfsorganisationen, die das Zeug so bereitwillig an die notleidenden Armen verteilten.
Brunetti, von dem Fall abgezogen durch einen ausdrücklichen Befehl Pattas, der seinerseits einem Befehl aus dem Gesundheitsministerium gehorchte, verfolgte die weiteren Ermittlungen in der Zeitung. Bonaventura gestand eine gewisse Beteiligung am Verkauf gefälschter Medikamente, behauptete aber, dieser sei von Mitri geplant und er von seinem Schwager dazu angestiftet worden. Beim Kauf von Interfar habe er einen großen Teil der Mitarbeiter jener Fabrik übernommen, die Mitri habe verkaufen müssen, und diese hätten Verderbtheit und Korruption mitgebracht. Er, Bonaventura, habe sich nicht imstande gesehen, dem Einhalt zu gebieten. Er habe bei Mitri protestiert, doch da habe sein Schwager gedroht, sein Privatdarlehen und das Geld seiner Frau aus dem Unternehmen zu ziehen, und das wäre mit Sicherheit Bonaventuras finanzieller Ruin gewesen. Opfer seiner eigenen Schwäche und hilflos angesichts Mitris größerer Finanzkraft, habe Bonaventura keine andere Wahl gehabt, als mit Produktion und Verkauf der gefälschten Medikamente weiterzumachen. Jede Gegenwehr hätte Bankrott und Schande bedeutet.
Aus allem, was er gelesen hatte, schloß Brunetti, daß Bonaventura, sollte sein Fall überhaupt je vor Gericht kommen, höchstens zu einer Geldstrafe verurteilt würde, und nicht einmal zu einer besonders hohen, da an den Aufklebern des Gesundheitsministeriums nie direkt manipuliert worden war. Brunetti hatte keine Ahnung, gegen welches Gesetz der Verkauf abgelaufener Medikamente verstieß, vor allem wenn sie in einem anderen Land verkauft wurden. Klarer war das Gesetz im Hinblick auf die Fälschung von Arzneimitteln, aber auch hier wurde die Sache dadurch kompliziert, daß die Sachen nicht in Italien verkauft oder in Umlauf gebracht worden waren. Doch das alles schob er als sinnlose Spekulation beiseite. Bonaventuras Verbrechen hieß Mord, nicht Manipulation an Medikamentenpackungen: Mord an Mitri und Mord an allen, die an den von ihm verkauften Arzneimitteln gestorben waren.
Mit dieser Meinung stand Brunetti allein. Die Zeitungen waren jetzt voll davon überzeugt, daß Palmieri den Mord an Mitri begangen hatte, allerdings wurde nirgendwo die ursprüngliche These widerrufen, daß der Mörder ein Fanatiker gewesen sei, der durch Paolas Aktionen aufgehetzt und zum Mord angestachelt worden war. Der Untersuchungsrichter hatte inzwischen entschieden, keine
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