Brunetti 09 - Feine Freunde
die Haustür genauer. Das Vorhängeschloß hielt immer noch die Eisenkette, aber die Schrauben, mit denen der eiserne Flansch am Türrahmen befestigt war, saßen ganz locker und ließen sich leicht herausziehen. Als er das tat, ging die Tür fast von selbst auf.
Er betrat das Haus. Neugierig drehte er sich um und wollte sehen, ob es funktionierte - ja, tatsächlich, er konnte die Schrauben, die den Flansch hielten, wieder in die Löcher stecken; die Kette war so lang, daß die Tür eine Handbreit offenblieb, während er das tat. Als er fertig war, zog er die Tür zu. Jetzt war er also drinnen, und von außen wirkte das Haus sicher verschlossen.
Er drehte sich um und sah sich auf einem Gang, an dessen Ende eine Treppe war. Auf diese lief er nun rasch zu. Es war eine Steintreppe, die unter seinen Schritten kein Geräusch machte, während er bis in den dritten Stock hinaufstieg.
Dort blieb er kurz stehen, um sich zu orientieren, nachdem er auf der Treppe so oft die Richtung gewechselt hatte. Von links drang Licht herein, woraus er schloß, daß dort die Vorderseite war. Dahin wandte er sich.
Von oben hörte er ein Geräusch, ganz leise nur, aber doch ein Geräusch. Er blieb wie angewurzelt stehen und überlegte, wo er denn nur diesmal seine Pistole gelassen hatte: in der Stahlkassette zu Hause, seinem Spind auf dem Schießstand, in dem Jackett, das in seinem Dienstzimmer im Schrank hing? Sinnlos, darüber nachzugrübeln, wo sie war, wenn auf der anderen Seite feststand, wo sie nicht war.
Er wartete ab, wobei er nur durch den Mund atmete, und hatte das deutliche Gefühl, daß irgend etwas über ihm war. Mit einem großen Schritt stieg er über eine leere Plastikflasche hinweg, huschte zu einer Türöffnung rechts von ihm und drückte sich hinein. Er sah auf die Uhr: zwanzig nach sechs. Bald würde es draußen dunkel werden; drinnen war es schon dunkel, abgesehen von dem bißchen Licht, das von der Vorderseite des Hauses zu ihm drang.
Er wartete. Brunetti war gut im Warten. Als er wieder auf die Uhr schaute, war es fünf nach halb sieben. Wieder dieses Geräusch von oben, etwas näher jetzt, und deutlicher. Lange wieder nichts. Dann kam das leise Geräusch die Treppe herunter, auf ihn zu, diesmal unverkennbar Schritte auf der Holztreppe vom Dachboden.
Er wartete. Das bißchen Licht, das hereindrang, bildete im Treppenhaus so etwas wie einen Nebeldunst, in dem Brunetti nur ein Nichtvorhandensein wahrnahm. Er wandte den Blick weiter nach links, und da erkannte er den grauen Schemen einer die Treppe herunterkommenden Gestalt. Er schloß die Augen und atmete noch langsamer. Beim nächsten Laut, der von dem Treppenabsatz unmittelbar vor ihm zu kommen schien, öffnete er die Augen, erblickte die undeutlichen Umrisse eines Menschen, trat plötzlich vor und rief, so laut er konnte: »Halt, Polizei!«
Ein Schrei ertönte, ein tierischer Angstschrei, und das, was ihn von sich gegeben hatte, fiel Brunetti vor die Füße, wobei es weiterhin diesen hohen, durchdringenden Ton aussandte, bei dem sich Brunettis Nackenhaare aufstellten.
Er taumelte zur Vorderseite des Hauses hinüber, riß ein Fenster auf und stieß die hölzernen Läden nach außen, um das schwindende Tageslicht hereinzulassen. Vorübergehend geblendet drehte er sich um und ging zurück zu der Türöffnung, von wo noch immer dieser Ton kam, inzwischen etwas leiser und weniger angstvoll, dafür erkennbar menschlich.
In dem Moment, als Brunetti den jungen Mann sah, der da zusammengekrümmt auf dem Boden lag, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die Arme um den dünnen Leib geschlungen, um ihn vor den erwarteten Tritten oder Schlägen zu schützen, erkannte er ihn auch. Es war einer dieser drei Drogensüchtigen, alle Anfang Zwanzig, die seit Jahren am oder unweit vom Campo San Bortolo herumlungerten, von Bar zu Bar zogen und immer mehr den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, während Tag zur Nacht wurde und Jahr um Jahr verging. Es war Gino Zecchino, der größte von den dreien, regelmäßig verhaftet wegen Dealerei, oft wegen Tätlichkeiten oder Bedrohung von Passanten. Brunetti hatte ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und war entsetzt über seinen körperlichen Verfall. Sein dunkles Haar war lang und fettig, wahrscheinlich eklig anzufassen, seine Schneidezähne waren längst ausgefallen. Über und unter dem Kieferknochen waren tiefe Höhlungen, und er sah aus, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Da er aus Treviso stammte, hatte er keine
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