Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Baukränen, die über die Stadt ragten, sowie auf sämtlichen Hausdächern die Fernsehantennen jeder Höhe und Gestalt.
Beim Anblick der starr und eckig dastehenden Kräne fiel Brunetti auf, wie selten er diese Dinger in Bewegung sah. Zwei davon standen nach wie vor über der leeren Hülse des Opernhauses, so erstarrt wie alle bisherigen Versuche, es wiederaufzubauen. Wenn er an die prahlerischen Worte auf der Titelseite des Gazzettino am Tag nach dem Brand dachte, das Theater werde in zwei Jahren wieder so dastehen wie vorher, wußte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und das wußte er schon seit über zwei Jahren nicht. Der Volksglaube - seinerseits mit der Wahrheit austauschbar - wollte wissen, daß die reglosen Kräne die Saadt jeden Tag zehn Millionen Lire kosteten, und die Volksphantasie hatte längst alle Versuche aufgegeben, die Gesamtkosten für eine Wiederherstellung abzuschätzen. Jahre vergingen, das Geld versickerte, und nach wie vor standen die Kräne reglos und stumm über dem nicht enden wollenden Gewinsel und juristischen Gezerre darüber, wer nun den Zuschlag für den Wiederaufbau bekommen solle.
Beide verstummten und sahen die Stadt näher kommen. Es gab keine Stadt, die mehr von sich eingenommen war als Venedig: Billige, gewöhnliche Selbstportäts säumten so manche Straße; an fast allen Kiosken konnte man grellbunte Plastikgondeln erstehen; an allen Straßenecken verkauften Farbkleckser, deren Baskenmützen sie fälschlicherweise als Künstler auswiesen, scheußliche Pastellzeichnungen; auf Schritt und Tritt huldigte die Stadt dem Schlechten und spielte das Flittchen. Nun kamen zu alledem noch die schrecklichen Folgen der vielen trockenen Wochen: Die engen Calli stanken nach Urin, hündischem und menschlichem; unter den Füßen klebte immer eine dünne Staubschicht, egal wie oft die Straßen gefegt wurden. Und dennoch blieb ihre Schöheit unbefleckt, einzigartig.
Der Bootsführer schwenkte nach rechts und legte bei der Questura an. Brunetti bedankte sich mit einer Handbewegung und sprang an Land, rasch gefolgt von Vianello.
»So, und nun?« fragte der Sergente, als sie durch die breiten Glastüren traten.
»Rufen Sie im Krankenhaus an, und fragen Sie, für wann die Obduktionen geplant sind. Ich werde Signorina Elettra einmal auf die Bottins ansetzen.« Bevor Vianello fragen konnte, fuhr er schon fort: »Auch auf Sandro Scarpa, und wenn sie schon einmal dabei ist, auf Signora Follini.«
Auf dem ersten Treppenabsatz angekommen, wandte Brunetti sich in die Richtung von Pattas Vorzimmer, während Vianello in den Bereitschaftsraum hinunterging.
»Noch immer im Kampf mit Veblen?« fragte Brunetti, als er in Signorina Elettras kleines Büro trat.
Sie nahm einen Briefumschlag, steckte ihn als Lesezeichen in das Buch und legte es weg. »Es liest sich nicht so leicht. Aber ich konnte keine italienische Ausgabe auftreiben.«
»Ich hätte Ihnen meine leihen können«, bot Brunetti an.
»Danke, Commissario. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie das Buch haben...«, begann sie, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Sie hätte einen Vorgesetzten doch nicht bitten können, ihr ein Buch zur Lektüre während der Dienstzeit mitzubringen.
»Ist der Vice-Questore jetzt da?«
»Er war nach dem Mittagessen für eine halbe Stunde hier, hat dann aber gesagt, er müsse zu einer Besprechung.«
Was Brunetti unter anderem so gut an Signorina Elettra gefiel, war die gnadenlose Präzision ihres Ausdrucks: Sie sagte nicht: »Er mußte zu einer Besprechung«, sondern: »Er hat gesagt, er müsse zu einer Besprechung.«
»Dann sind Sie also frei?«
»Frei wie die Luft, Commissario«, antwortete sie, wobei sie wie eine brave Schülerin die gefalteten Hände vor sich auf den Schreibtisch legte und sich auf ihrem Stuhl kerzengerade aufrichtete.
»Die Ermordeten sind Giulio Bottin und sein Sohn Marco. Beide sind aus Pellestrina, beide Fischer. Bitte bringen Sie über die beiden soviel wie möglich in Erfahrung.«
»Aus allen Quellen, Commissario?«
Da er annahm, daß sie damit alle Informationsquellen meinte, an die sie mit ihrem Computer oder über ihr Netz von Freunden und Beziehungen herankam, nickte er. »Und Sandro Scarpa, ebenfalls aus Pellestrina und wahrscheinlich auch Fischer. Sehen Sie, ob im Zusammenhang mit einem von ihnen der Name Giacomini auftaucht - den Vornamen kenne ich nicht. Und eine Signora Follini, die dort den Kaufladen betreibt.«
Bei dem Namen zog Signorina Elettra mit unverhohlenem
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