Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Stille. Brunetti blickte sich in dem Laden um: ringsum verstaubte Regale, reihenweise Reispackungen, Fliegenfänger im Doppelpack, etwas Schirmständer-Ähnliches mit lauter Besen und Mops und Schrubbern, zuletzt m einem niedrigen Regalfach vier Gazzettinos vom Vortag. Alles roch ein bißchen nach altem Papier und Dörrgemüse.
Nach dem versprochenen momento schob eine Frau den weißen Baumwollvorhang beiseite, der den Laden von den Räumen dahinter trennte, und kam herein. Sie trug ein kurzes grünes Kleid mit Kelchkragen und Schuhe mit unbequem hohen Absätzen für eine Frau, die den ganzen Tag hinter einem Verkaufstresen stand. »Buon giorno«, sagte sie in ihre Richtung und blieb kurz vor dem Vorhang stehen. Einen Augenblick verharrte sie schweigend, und Brunetti sah, daß die Frau in der allerneuesten Blüte ihrer Jugend stand, einer Blüte allerdings, die schon mehrmals und zweifellos in immer kürzeren Abständen wiederholt worden war.
Ihr Haar war löwenzahngelb und wirkte infolge der tiefen Bräunung ihrer Haut noch heller. Brunetti hatte einmal an einem dreitägigen Seminar über fortgeschrittene Methoden der Personenerkennung teilgenommen, wovon zwei Stunden allein den Mitteln gegolten hatten, mit denen Kriminelle ihr Äußeres veränderten. Er mußte zugeben, daß er - vielleicht weil er so viel Zeit seines Lebens mit der Beobachtung von Frauen zubrachte - fasziniert gewesen war von den vielfältigen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie, die ein Gesicht verändern und einen Menschen unkenntlich machen konnten. Einige dieser Techniken erkannte er hier wieder, und ganz kurz ging ihm dabei durch den Kopf, daß man das Gesicht dieser Frau gut als Anschauungsmaterial hätte nehmen können, weil die Spuren der an ihm aufgewendeten Arbeit so leicht zu erkennen waren.
Ihre Augen hatten einen leicht orientalischen Schnitt, und sie war dazu verurteilt, allezeit mit einem Lächeln durchs Leben zu gehen, das ihre Lippen in unentwegter Vorfreude öffnete. An ihren Kinnbacken hätte ein Fleischer seine Messer schärfen können. Die kecke Himmelfahrtsnase hätte am Gesicht einer dreißig Jahre jüngeren Frau wahre Wunder gewirkt, war in ihrem aber fehl am Platz, denn sie saß über einem breiten Mund mit dicken Lippen. Nach Brunettis Eindruck war sie ein paar Jahre älter als er.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie, während sie jetzt hinter ihren Tresen ging.
»Ja, Signora Follini«, antwortete Brunetti, indem er einen Schritt vortrat. »Ich bin Commissano Guido Brunetti und ermittle wegen des Unfalls, der sich heute früh hier ereignet hat.« Er wollte nach seiner Brieftasche greifen, um sich auszuweisen, aber sie winkte ungeduldig ab.
Sie warf einen kurzen Blick auf Vianello, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Brunetti zu.
»Unfall?« fragte sie sachlich.
Brunetti hob die Schultern. »Solange wir keinen Grund haben, etwas anderes zu vermuten, behandeln wir die Sache als Unfall«, antwortete er.
Sie nickte, sagte aber nichts weiter.
»Kannten Sie die beiden Männer, Signora?«
»Bottin und Marco?« fragte sie unnötigerweise zurück.
»Ja.«
»Sie waren hier«, sagte sie, als ob das genügte.
»Sie meinen, als Kunden?« fragte Brunetti, obwohl m so einem kleinen Ort wie Pellestrina wahrscheinlich alle Bewohner ihre Kunden waren.
»Ja.«
»Und darüber hinaus? Waren Sie befreundet?«
Sie schwieg und dachte kurz nach. »Marco könnte man vielleicht als Freund bezeichnen.« Sie legte besondere Betonung auf das Wort »Freund«, wie um die interessante Möglichkeit anzudeuten, daß er mehr gewesen sein könnte. Dann fuhr sie fort: »Aber auf keinen Fall seinen Vater.«
»Und warum?« fragte Brunetti.
Diesmal war es an ihr, mit den Schultern zu zucken. »Wir vertrugen uns nicht.«
»In einer bestimmten Hinsicht?«
»In jeder Hinsicht«, sagte sie, lächelnd ob ihrer eigenen Schlagfertigkeit. Dieses Lächeln, das ein makelloses Gebiß entblößte und nur zwei winzige Fältchen an den Mundwinkeln entstehen ließ, gab Brunetti einen Eindruck davon, wie sie vielleicht hätte aussehen können, wenn sie nicht so wild entschlossen gewesen wäre, ihre mittleren Lebensjahre der Wiederherstellung ihrer jungen Jahre zu widmen.
»Und warum?«
»Unsere Väter hatten als junge Männer Streit, vor etwa fünfzig Jahren«, sagte sie, diesmal mit so unbewegtem Gesicht, daß Brunetti nicht wußte, ob sie es ernst meinte oder sich nur darüber lustig machte, wie es in kleinen Dörfern angeblich
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