Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
»Ich wiederhole: Bist du von Sinnen?«
»Ich hatte keine Möglichkeit, sie davon abzuhalten«, beharrte Brunetti, der sich darüber im klaren war, wie schwach er durch dieses Eingeständnis dastand. Bei seiner Schilderung der Vorgänge hatte er nicht erwähnt, daß die Idee ursprünglich von ihm gekommen war, und Paola hatte eine modifizierte Fassung zu hören bekommen, wonach Signorina Elettra von sich aus darauf bestanden hatte, in die Ermittlungen aktiver eingeschaltet zu werden. Brunetti sah sich aus dieser Schilderung als der arme Chef hervorgehen, der sich von seiner Sekretärin hatte nasführen lassen und es nicht über sich brachte, ihre Karriere zu gefährden, indem er ihr die erforderliche Disziplin abverlangte.
Lange Erfahrung mit den Ausflüchten, in die sich Männer in Machtpositionen zu retten pflegen, nährten in Paola den Verdacht, daß sie nicht die reine Wahrheit zu hören bekommen hatte. Allerdings sah sie keinen Gewinn darin, seine Schilderung der Vorgänge in Frage zu stellen, wenn sie sich doch nur für das Ergebnis interessierte.
»Du willst sie also hinlassen?« fragte sie erneut.
»Wie gesagt, Paola«, antwortete er, während er sich vornahm, mit dem Einschenken eines zweiten Gläschens Calvados zu warten, bis er das hinter sich hätte. »Wie gesagt, es hat nichts damit zu tun, ob ich sie hinlasse, sondern damit, daß ich sie nicht davon abhalten kann. Wenn ich nicht nachgegeben hätte, nun, dann hätte sie sich eben eine Woche Urlaub genommen und wäre auf eigene Faust hinausgefahren, um herumzufragen.«
»Dann wäre also sie von Sinnen?« fragte Paola scharf.
Es gab in bezug auf Signorina Elettra zwar viele Fragen, auf die Brunetti selbst gern eine Antwort gehabt hätte, aber diese gehörte nicht dazu. Statt darauf einzugehen, gab er also lieber seiner primitiveren Natur nach und schenkte sich noch einen Calvados ein.
»Was glaubt sie denn da ausrichten zu können?« wollte Paola wissen.
Er stellte sein Glas unberührt wieder ab. »Wie sie es mir erklärt hat, will sie die gleiche Taktik und Technik anwenden wie an ihrem Computer: Fragen stellen, die Antworten anhören und dann weitere Fragen stellen.«
»Und wenn ihr nun einer, während sie gerade ihre Fragen stellt, ein Messer in den Bauch rammt, wie man es mit dem Sohn dieses Fischers gemacht hat?« bohrte Paola weiter.
»Genau das habe ich sie auch gefragt«, antwortete Brunetti, und das entsprach zwar seiner ursprünglichen Absicht, aber nicht den Tatsachen.
»Und?«
»Sie findet einfach, es genügt, daß sie seit Jahren jeden Sommer hinfährt.«
»Genügt wozu - um sie in einen Mantel der Unsichtbarkeit zu hüllen?« Paola verdrehte die Augen und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Sie ist kein Dummchen, Paola«, versuchte er Signorina Elettra zu verteidigen.
»Das weiß ich, aber sie ist nur eine Frau.«
Er hatte, als sie zu sprechen anfing, gerade die Hand nach seinem Glas ausgestreckt, aber bei ihren Worten erstarrte er. »Das von der Rosa Luxemburg des Feminismus?« fragte er. »Sie ist nur eine Frau?«
»Bleib bitte fair, Guido«, verlangte Paola mit echtem Zorn in der Stimme. »Du weißt, wie ich das meine. Sie wird da draußen sein mit ihrem telefonino und ihrem Grips, aber jemand anders läuft da draußen mit einem Messer herum, und dieser Jemand hat schon zwei Menschen ermordet. Solchem Risiko würde ich niemanden aussetzen, an dem mir etwas liegt.«
Er nahm diese letzte Bemerkung zwar zur Kenntnis, ließ sie aber durchgehen. »Vielleicht hättest du besser mit ihr reden sollen statt mit mir.«
»Nein«, sagte Paola, ohne auf seinen Sarkasmus einzugehen. »Dabei wäre wohl nichts Gutes herausgekommen.«
Paola war Signorina Elettra erst zweimal begegnet, beide Male bei offiziellen Diners, die Patta für die Mitarbeiter der Questura gegeben hatte. Beide Male waren sie einander vorgestellt worden und hatten auch ein paar Worte gewechselt, aber immer hatte man sie an verschiedenen Tischen untergebracht, in Brunettis Augen eine bewußte Entscheidung Pattas, der verhindern wollte, daß die Frauen über ihn redeten.
Paola, immer praktisch, verzichtete jetzt auf weitere Theorien und Unterstellungen und befaßte sich statt dessen mit der Wirklichkeit. »Kannst du in irgendeiner Weise dafür sorgen, daß da draußen jemand ein Auge auf sie hat?«
»Das halte ich im Moment noch nicht für nötig.«
»Wenn es erst nötig wird, ist es zu spät«, wandte Paola ein, und er mußte ihr wohl oder übel recht geben,
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