Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
obschon er es nicht aussprach.
»Nun?« hakte sie nach.
»Ich habe Vianello nachprüfen lassen, ob einer von uns dort draußen wohnt.« Sein Kopf schütteln beantwortete die Frage. »Außerdem hat sie ausdrücklich darauf bestanden, daß außer Vianello und mir niemand wissen soll, wo sie ist und was sie macht.« Ehe Paola nachfragen konnte, erklärte er schon weiter: »Sie sagt, von ihrer Familie weiß keiner, wo sie arbeitet, obwohl es mir schwerfällt, das zu glauben. Die Fischer auf Pellestrina vielleicht nicht, zumal sie die Leute nur einmal im Jahr sieht, aber irgendwer von ihren Angehörigen muß sich doch dafür interessieren, was sie macht.«
»Und wenn es doch einer weiß, oder wenn einer sie danach fragt, oder wenn einer herausfindet, daß sie in der Questura arbeitet?« fragte Paola.
»Oh«, antwortete er prompt, »da wird ihr sicher schnell etwas einfallen, womit sie das erklären kann. Sie ist eine exzellente Lügnerin. Jahrelang habe ich ihr dabei zuhören müssen.«
»Aber«, holte Paola ihn auf die Erde zurück, »wenn sie in Gefahr gerät?«
»Das will ich nicht hoffen.«
»Das ist keine Antwort, Guido, schon gar keine ausreichende.«
»Wir können doch nichts machen. Sie hat sich so entschieden, und ich glaube nicht, daß man sie aufhalten kann.«
»Das klingt ziemlich unbekümmert, muß ich sagen.«
Brunetti wußte nicht, wie seine Frau es aufnehmen würde, wenn er ihr seine Empfindungen für eine andere erklärte, also versuchte er sich erst gar nicht zu verteidigen.
»Es wäre furchtbar, wenn ihr etwas passierte«, sagte Paola.
Brunetti verschwieg ihr lieber, daß es ihm das Herz brechen würde, und griff nach seinem Calvados.
Am nächsten Morgen kam Brunetti erst um neun in die Questura, denn er hatte noch mit drei Informanten telefoniert, und das tat er grundsätzlich nur von öffentlichen Fernsprechern aus, wobei er immer ihre telefonini anwählte. Sie hatten zwar alle von dem Verbrechen gelesen, aber keiner konnte ihm etwas über die Bottins oder den Mord an ihnen sagen. Alle versprachen, ihn anzurufen, wenn sie etwas hören sollten, aber große Hoffnungen wollte ihm keiner machen, da sich das Verbrechen so weit entfernt ereignet hatte. Für seine venezianischen Kontaktleute hätte das Ganze ebensogut in Mailand gewesen sein können.
Der Gegenstand seiner Diskussion mit Paola war nicht da, als er ihr Zimmer betrat, also ging er in sein eigenes hinauf und überflog dort rasch die Zeitungen. Die überregionalen gaben sich verständlicherweise nicht mit den Bottins ab, aber Il Gazzettino widmete ihnen die halbe erste Seite des zweiten Teils. In dem aufgeregten Stil, den dieses Lokalblatt für seine Berichterstattung über Gewaltverbrechen reserviert hatte, begann der Artikel mit der Frage, ob die Bottins wohl irgendeine seltsame Vorahnung gehabt oder am Morgen zuvor beim Aufwachen gar schon gewußt hatten, daß es der letzte Tag ihres Lebens sein würde. Da diese Fragen für die Zeitung inzwischen zur Eröffnungsliturgie in jedem Bericht über jedes Gewaltverbrechen geworden war, knurrte Brunetti nur: »Wohl kaum.«
In dem Artikel wurde einzig wiederholt, was Brunetti schon wußte: Der Vater war durch einen Schlag auf den Kopf gestorben, der Sohn durch einen Messerstich. Beide waren schon tot gewesen, als das Boot angezündet wurde und versank. Der Zeitungsbericht sagte ihm also nichts Neues, dafür enthielt er kleine Fotos von den beiden Toten. Bottins Gesicht wies die groben Züge eines Mannes auf, der zuviel Zeit im Freien verbracht hatte. Er trug die mürrische Feindseligkeit zur Schau, die man üblicherweise auf Fotos zu amtlichen Dokumenten sah. Marco hingegen lächelte, und neben seinen Mundwinkeln waren zwei tiefe Grübchen zu sehen. Der Vater war dunkelhaarig und hatte einen kurzen, dicken Hals, Marco hingegen schien aus feinerem, leichterem Stoff zu sein. Das Feine in seinen Zügen wäre wohl nach zwanzig Jahren auf dem Meer nicht mehr vorhanden gewesen, sagte sich Brunetti, aber es lag doch eine gewisse Anmut darin, wie Marco den Kopf schiefgelegt hielt, und das machte Brunetti neugierig auf die Mutter und die Umstände, die dazu geführt hatten, daß er das brutale Ende des Vaters hatte teilen müssen.
8
S ignorina Elettra kam erst gut zwei Stunden nach seinem Eintreffen in der Questura zu ihm herauf. Als Brunetti sie sah, konnte er kaum der Versuchung widerstehen, ihr entgegenzugehen, und er erhob sich auch schon von seinem Stuhl, aber die gute Sitte hielt ihn
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