Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
sich draußen in der Lagune abspielt, nicht hier in der Questura; in zwei Jahren jedenfalls.«
Brunetti konnte diesen Standpunkt durchaus verstehen. Er versuchte es trotzdem. »Wenn aber dieser Fisch in irgendeiner Weise kontaminiert ist, bedeutet das nicht Gefahr für den, der ihn ißt?«
»Meinen Sie das so, wie ich es verstehe, Commissario?« fragte Bonsuan ruhig.
»Wie denn?«
»Daß Sie an meine Bürgerpflicht appellieren, mich an der Beseitigung einer öffentlichen Gefahr zu beteiligen? In meinen Ohren klingt das so, als ob Sie von mir wollten, daß ich Greenpeace spiele und Ihnen sage, wer diese Leute sind, damit Sie hingehen und sie daran hindern können, etwas zu tun, was für die Menschen und die Umwelt gefährlich ist.«
In seinem Ton war keine Spur von Sarkasmus, dennoch konnte Brunetti sich des Gefühls nicht erwehren, daß Bonsuan ihn mit seiner Bemerkung zum Narren stempelte. »Ja, so ähnlich hatte ich mir das wohl gedacht«, räumte er widerwillig ein.
Bonsuan setzte sich auf seinem Stuhl erneut zurecht, den Oberkörper aufgerichtet, die Hände flach auf den Knien, nur die Füße blieben in Erwartung plötzlichen Seegangs weit auseinander und fest auf dem Boden. »Ich bin kein gebildeter Mann, Commissario«, begann er, »und sicher denke ich in dieser Sache nicht ganz klar, aber ich wüßte nicht, wozu das gut wäre.« Brunetti zog es vor, ihn diesmal nicht zu unterbrechen, und der Bootsführer fuhr fort: »Erinnern Sie sich noch, Commissario, wie einmal die Rede davon war, die Chemiefabriken zu schließen, weil sie die Umwelt so verschmutzten?« Er sah zu Brunetti hinüber und wartete auf eine Antwort.
»Ja.« Natürlich erinnerte er sich daran. Vor ein paar Jahren hatten Ermittler alle möglichen giftigen Substanzen entdeckt, die von verschiedenen chemischen und petrochemischen Produktionsanlagen auf dem Festland in die Lagune sickerten, flössen oder strömten. Die Zeitungen hatten sogar Listen mit Namen von Arbeitern veröffentlicht, die in den letzten zehn Jahren an Krebs gestorben waren, und zwar in einer Zahl, die weit über jede Wahrscheinlichkeitserwartung hinausging. Ein Richter hatte die Schließung der Fabriken angeordnet und sie als Gefahr für die Gesundheit der dort arbeitenden Menschen bezeichnet, wobei er die Frage offen ließ, welche Schäden sie bei den Menschen anrichteten, die um sie herum wohnten. Und schon einen Tag später war es zu Massenprotesten und Gewaltdrohungen seitens genau der Arbeiter gekommen, die mit den Giften hantierten, an denen sie vermutlich starben, die sie einatmeten und die Spritzer davon auf die Haut bekamen. Diese Leute verlangten, daß die Fabriken offen blieben, damit sie weiter darin arbeiten konnten, und begründeten es damit, daß die langfristige Möglichkeit einer Erkrankung weniger gefährlich für sie sei als die unmittelbar drohende Arbeitslosigkeit. Und so blieben die Fabriken offen, die Männer arbeiteten weiter darin, und über diese andere Flut, die in die Lagune schwappte, wurde kaum noch ein Wort gesagt oder geschrieben.
Bonsuan war verstummt, weshalb Brunetti ihn zum Weiterreden ermunterte. »Was ist damit?«
»Clara hat einen Patienten«, begann Bonsuan, dessen eine Tochter Ärztin war und eine Praxis in Castello hatte. »Er leidet an einer seltenen Form von Lungenkrebs. Hat nie im Leben eine Zigarette geraucht. Seine Frau auch nicht.« Er wies mit einer Handbewegung Richtung Festland. »Aber er hat zwanzig Jahre da draußen gearbeitet.«
Bonsuan verstummte wieder. »Und?« fragte Brunetti.
»Und obwohl Clara Statistiken hat, die besagen, daß diese Form von Krebs sich nur bei Leuten findet, die lange mit einer dieser Chemikalien zu tun hatten, mit denen sie da draußen arbeiten, will er noch immer nicht glauben, daß er sich den Krebs an seinem Arbeitsplatz geholt hat. Seine Frau sagt, es ist Gottes Wille, und er selbst nennt es einfach Pech. Clara hat es aufgegeben, mit ihm darüber zu reden, weil sie sah, daß es für ihn und seine Frau überhaupt keine Rolle spielt, was ihn umbringen wird. Sie sagt, sie konnte ihn auf keine Weise davon überzeugen, daß seine Arbeit irgend etwas damit zu tun hat.«
Diesmal wartete Bonsuan nicht darauf, daß Brunetti um weitere Klarstellung bat. »Ich glaube also, daß es keine Rolle spielt, ob jemand davor warnt, wie gefährlich die Muscheln sind, oder die Fische, oder die Garnelen. Die Leute werden sagen, ihre Eltern hätten das alles schon immer gegessen und seien neunzig Jahre alt
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