Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
legte, hatte im Lauf seines Lebens sein gerüttelt Maß Papier zu diesem Archiv beigesteuert. Er sah auf die Uhr, und da er nicht den Eindruck erwecken wollte, er plage Signorina Elettra wegen der erbetenen Informationen, ging er kurz entschlossen zum Mittagessen nach Hause.
9
Z u Hause traf er Paola am Küchentisch an, den Kopf über eine Wochenzeitschrift gebeugt, entweder Panorama oder Espresso, denn diese beiden hielt sie im Abonnement. Es war ihre Gewohnheit, die Zeitschriften zuerst für mindestens sechs Monate auf einen Stapel zu legen, bevor sie darin zu lesen anfing, denn diese Zeit, so sagte sie, reiche aus, um die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken -der gegenwärtige Pop-Star hatte inzwischen Gelegenheit gehabt, an einer Überdosis zu sterben oder dem wohlverdienten Vergessen anheimzufallen; Gina Lollobrigida hatte eine neue Karriere beginnen und schon wieder aufgeben können; und über alle geplanten politischen Reformen war der Schwamm der Zeit hinweggegangen, um Platz zu schaffen für völlig neue.
Bei einem Blick nach unten sah er ein Foto, auf dem zwei Männer in unverwechselbaren weißen Kochschürzen und den rot-weißen Kapuzen von Weihnachtsmännern abgebildet waren, auf der Seite links davon ein überladener Tisch; das Tannengrün und die roten Kerzen sagten ihm, daß Paola mit dem Lesen bis zum letzten Jahresende aufgeholt hatte.
»Hm, gut«, meinte er, als er sich über sie beugte, um sie auf den Kopf zu küssen. »Heißt das, es gibt zu Mittag Gans?« Als sie ihn ignorierte, fuhr er fort: »Ein bißchen zu heiß dafür, oder? Aber egal was es ist, es duftet köstlich.«
Sie sah auf und lächelte. »Schön war's, wenn die wenigstens Gans als Weihnachtsessen empfohlen hätten.« Sie tippte mit tadelndem Zeigefinger auf eine der Seiten und fuhr fort: »Ich kann diesen Leuten nichts glauben.«
Da dies bei ihr eine häufige Reaktion auf die Lektüre der Zeitschriften war, widmete Brunetti seine Aufmerksamkeit der Flasche Pino Grigio, die er aus dem Kühlschrank genommen hatte. Dann nahm er zwei Gläser aus dem Kabinett hinter sich und goß sie halbvoll. Während er das eine Paola hinstellte, gab er ein fragendes Geräusch von sich.
Sie geruhte dies als Zeichen von Interesse zu deuten und antwortete: »Die erzählen uns hier, wir sollten alle neuen Essensvorstellungen über Bord werfen und wieder so essen wie unsere Eltern und Großeltern.« Brunetti, der schon genug nouvelle cuisine für sein ganzes Leben genossen hatte, konnte dem nur aus vollem Herzen zustimmen. Da er aber wußte, daß Paola, die beim Essen eher das Abenteuer suchte, sich in diesem Punkt von ihm unterschied, behielt er seine Meinung für sich.
»Hör dir mal an, was die als ersten Gang für ein Weihnachtsessen im Stil unserer Großeltern vorschlagen.« Sie nahm die Zeitschrift in die Hand und schüttelte sie zornig, als könnte sie ihr auf diese Weise ein wenig Verstand einbleuen. »Gänseleber mit Birnentörtchen al Taurasi - weiß der Kuckuck, was das gibt - mit Ananas in Limoncello.« Sie sah zu Brunetti auf, der die Geistesgegenwart besaß, so mißbilligend wie nur möglich den Kopf zu schütteln.
Ermutigt fuhr sie fort: »Und dann hör dir das an. Sartù -weiß der Kuckuck, was das gibt - aus Reis mit Auberginen-scheiben und Eiern nebst Fleischbällchen di annecchia und Soße aus San-Marsano-Tomaten.« Voller Ekel ob dieses letzten Exzesses warf sie die Zeitschrift auf den Tisch, wo sie zuklappte und Brunetti daraufhin den Ablick eines Paares jener üppigen Frauenbrüste darbot, die beide Publikationen für ein unverzichtbares Motiv auf ihren Titelblättern hielten. »Was denken die eigentlich, wo unsere Großeltern gelebt haben - am Hof Ludwigs des Vierzehnten?«, verlangte sie zu wissen.
Brunetti, der wußte, daß mindestens ein Teil von Paolas Großeltern am Hof des ersten italienischen Königs gedient hatte, zog es wieder vor mit Schweigen zu antworten.
Während sie die Zeitschrift von sich schob, fragte sie: »Warum können die sich nur so schwer daran erinnern, was für ein armes Land Italien war, und zwar vor noch gar nicht langer Zeit?«
Die Frage schien doch mehr als nur rhetorisch zu sein, weshalb Brunetti antwortete: »Ich glaube, daß Menschen sich lieber an glückliche Zeiten erinnern, glücklichere zumindest, und wenn sie sich an solche nicht erinnern können, na, dann beschönigen sie eben ihre Erinnerungen.«
»Bei alten Leuten scheint das tatsächlich so«, pflichtete Paola ihm bei.
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