Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
darum gekümmert.
Selbst Kind ihrer Gewässer, idealisierte auch Brunetti die Lagune immer noch als einen Ort des Friedens. Ob, so fragte er sich, die Menschen in Indien ihre Mutter Ganges ebenso sahen, als Quell allen Lebens, als Ernährer und Friedensbringer? In einer von Paolas englischen Zeitschriften hatte er vor kurzem einen Artikel über die Verschmutzung des Ganges gelesen, der an manchen Stellen unumkehrbar vergiftet sei und den Menschen, die darin badeten oder sein Wasser tranken, mit Sicherheit Krankheit, wenn nicht Tod brachte, während eine träge Regierung sich auf Wichtigtuerei und hohle Phrasen beschränkte. Darüber dachte er ein Weilchen nach, doch bevor er auch nur anfangen konnte, sich in einem Gefühl europäischer Überlegenheit zu sonnen, fiel ihm wieder Vianellos Weigerung ein, Muscheln zu essen, und Bonsuans Vortrag über die am Werk befindlichen Kräfte, die es zuließen, daß sie überhaupt vom Meeresgrund heraufgeholt wurden.
Er nahm das Telefonbuch aus der unteren Schublade. Ein bißchen dämlich kam er sich schon vor, als er bei »P« aufschlug und zu »Polizei« blätterte. Die Untergliederungen »San Polo«, »Eisenbahn-« und »Grenz-« waren nicht sehr verheißungsvoll, und allzuviel versprach er sich auch nicht von »Post-« und »Verkehrs-«. Er klappte das Telefonbuch wieder zu, wählte die Vermittlung und fragte den Telefonisten, wohin er Anrufe, die sich auf Ereignisse in der Lagune bezögen, gewöhnlich weiterleite. Der Mann antwortete, das hänge von der Art des Ereignisses ab: Unfälle würden an die Hafenpolizei gemeldet, für Straftaten seien die Carabinieri zuständig, oder je nach Art der Straftat - und hier klang die Stimme des Telefonisten ein wenig gepreßt -eben die Questura.
»Verstehe«, sagte Brunetti. »Und wer fährt dann hinaus und ermittelt?«
»Je nachdem, Commissario«, antwortete der Telefonist mit geradezu vorbildlicher Diskretion. »Wenn wir kein Boot zur Verfügung haben, verständigen wir die Cara-binieri, und dann machen die das.«
Brunetti wußte nur zu gut, warum keine Carabinieri-Taucher für die Untersuchung des Wracks der Squallus zur Verfügung gestanden hatten, darum hielt er es für klüger, dies jetzt nicht zu kommentieren.
»Und in den letzten paar Jahren ...«, begann Brunetti, doch dann unterbrach er sich und sagte: »Nein, lassen Sie nur. Ich warte auf Signorina Elettra.«
Gerade als er auflegte, glaubte er die Stimme des Telefonisten noch einmal zu hören, geisterhaft infolge der Entfernung: »Auf die warten wir alle.« Aber ganz sicher war er nicht.
Wie alle Italiener kannte Brunetti von Kindesbeinen an die Carabinieri-Witze: Warum werden Carabinieri immer zu zweit losgeschickt? - Weil der eine lesen, der andere schreiben kann. Er hatte gehört, daß Amerikaner sich ähnliche Witze über Polen erzählten und Engländer sich damit auf Kosten der Iren amüsierten. Im Lauf seiner Karriere hatte Brunetti so manches gesehen, was den Volksmund zu bestätigen schien, aber erst in den letzten Jahren hatte etwas seinen zweiten Glauben ins Wanken gebracht: daß die Carabinieri, so dumm und beschränkt sie sein mochten, immerhin ein Fels der Ehrlichkeit seien.
Da er im Moment nichts anderes zu tun wußte, zog er sich einen Stapel ungelesener Papiere heran und begann sie durchzublättern, überflog die Texte, achtete kaum auf ihren Inhalt, suchte nur die Stelle am Ende, an der er sie abzeichnen sollte, bevor er sie an den nächsten, der sie zu lesen hatte, weitergab. Als seine Kinder noch jünger waren, hatte er gehört, daß alle ihre Hausarbeiten in der Schule einge-sammelt, in ein Archiv getan und dort zehn Jahre lang aufbewahrt würden. Wer ihm das gesagt hatte, wußte er nicht mehr, aber er hatte sich seinerzeit ein riesiges Archiv vorgestellt, so groß wie die ganze Stadt, in dem sämtliche Urkunden aufbewahrt wurden. Die römischen Historiker, die er so liebte, hatten die italienische Halbinsel oft als dicht bewaldet geschildert, stellenweise undurchdringlich von Bäumen bedeckt: Eichen, Buchen, Kastanien, jetzt natürlich alle fort, gefällt für den Schiffsbau oder um Platz zu machen für die Landwirtschaft. Oder, dachte er traurig, um Papier daraus zu machen, auf daß die bereits eingelagerten Schriftstücke noch mehr würden, bis sie, falls sich keiner ihrer annahm, ihrerseits vielleicht eines Tages wieder die ganze Halbinsel bedeckten. Er selbst, dachte er, als er seine Initialen auf ein weiteres Blatt setzte und es beiseite
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