Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Signora Fellinis Laden lag, während Vianello weiter zu dem Restaurant ging, um dort den Kellner zu fragen, ob der ihm sagen könne, wo sein Bruder zu finden sei.
Signora Follini stand bereits hinter ihrem Ladentisch und unterhielt sich mit einer alten Frau. Sie blickte auf, als Brunetti eintrat, und wollte schon ein strahlendes Lächeln aufsetzen, aber dann konnte Brunetti förmlich sehen, wie ihr die Anwesenheit der anderen Frau einfiel und sie das Lächeln auf die bloße Höflichkeit reduzierte, die einem hereinkommenden Fremden allenfalls zustand.
»Buon giorno«, sagte Brunetti.
Signora Follini, die heute ein orangefarbenes Kleid mit breiten, elfenbeinfarbenen Spitzen um Hals und Taille trug, erwiderte den Gruß, wandte ihre Aufmerksamkeit aber sofort wieder der alten Frau zu, die währenddessen Brunetti beobachtete. Sie musterte ihn aus Augen, deren umwölktes Grau das fortgeschrittene Alter verrieten, ohne daß sie deswegen an Schärfe eingebüßt hätten. Falls sie eine Zahnprothese besaß, hatte sie sich heute nicht die Mühe gemacht, sie in den Mund zu stecken. Sie war klein, mindestens einen Kopf kleiner als Signora Follini, und ganz in Schwarz gekleidet. Wenn Brunetti sie so betrachtete, fand er, daß »gewickelt« das passendere Wort gewesen wäre, denn es war schwer zu definieren, was sie eigentlich anhatte. Ein langer Rock reichte ihr weit bis über die Knie, darüber trug sie eine Art Wolljacke, die fest zugeknöpft war. Um die Schultern und über den Kopf war ein gehäkelter Wollschal geschlungen, dessen beide Enden ihr bis fast auf die Hüften hingen.
Diese Kleidung wies sie ebenso eindeutig als vedova aus, als hätte sie ein großes V auf der Brust getragen oder ein Plakat in der Hand gehalten. Im Süden wimmelte es von solchen Witwen, die, ganz in Schwarz gehüllt, dazu bestimmt waren, wolkengleich durch die verbleibenden Jahre ihres Lebens zu wehen. Was sie tun durften und was nicht, war so streng geregelt wie bei den Bauersfrauen in Bengalen oder Peru. Aber so war das eben im Süden, und hier war man in Venedig, wo die Witwen bunte Farben trugen und tanzen gingen, wann und mit wem sie wollten, auch wieder heirateten, wenn ihnen der Sinn danach stand.
Brunetti fühlte ihren Blick auf sich, nickte und sagte: »Guten Morgen, Signora.«
Sie ignorierte ihn und wandte sich wieder an Signora Follini. »Und eine Schachtel Kerzen und ein halbes Kilo Mehl«, glaubte Brunetti sie sagen zu hören, aber sie sprach so breiten Dialekt, daß er nicht sicher war. Da stand er nun, keine zwanzig Kilometer von zu Hause, und hatte Schwierigkeiten, die Einheimischen zu verstehen.
Er ging weiter in den hinteren Ladenteil und begann die Waren auf den Regalen zu betrachten. Er griff sich eine Dose Cirio-Tomaten und drehte sie aus purer Neugier hin und her, um das Verfallsdatum zu sehen. Es war seit zwei Jahren abgelaufen. Er stellte die Dose vorsichtig wieder genau in den Staubring, in dem sie gestanden hatte, und ging weiter zum Seifenpulver.
Von dort warf er einen Blick zurück zum Ladentisch, aber die Witwe war noch immer da. Er hörte sie mit Signora Follini reden, doch ihre Stimme war zu leise, als daß er hätte hören können, was sie sagte - und selbst wenn er es gehört hätte, wäre er nicht sicher gewesen, ob er es auch verstanden hätte. Ein dünner Film lag auf den unregelmäßig gestapelten Waschmittelkartons; einer war an einer Ecke aufgenagt, und ein Häuflein winziger weißer und blauer Perlen war auf das Regalbrett gerieselt.
Seine Uhr sagte ihm, daß er jetzt schon über fünf Minuten in diesem Laden stand. Signora Follini hatte zu den Kerzen und dem Mehl, die vor der alten Frau auf dem Ladentisch lagen, noch nichts dazugelegt, aber noch immer standen die beiden Frauen da, und noch immer redeten sie.
Brunetti zog sich noch weiter nach hinten zurück und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Gläsern mit Essiggurken und Oliven, die etwa in Brusthöhe standen. Ein Glas, das anscheinend Pilze enthielt, fiel ihm auf, denn darin machte sich unter dem Deckel ein kleines weißes Oval aus Schimmel an der Innenwand breit. Neben dem Glas stand ein kleines Döschen ohne Etikett. Es stand nur da und wirkte seltsam verlassen und unnütz, allerdings auch ein wenig bedrohlich.
Brunetti hörte die Türglocke und drehte sich um. Die alte Frau war fort und mit ihr die Kerzen und das Mehl. Er ging zurück in den vorderen Teil des Ladens und sagte noch einmal: »Buon giorno.«
Sie lächelte zur
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