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Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Titel: Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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und ging mit der Lagunenkarte auf die Terrasse hinaus. Das längst vertrocknete Klebeband, das einzelne Kartenteile zusammenhielt, zwang ihn, die Karte langsam auseinanderzuklappen, damit er sie auf dem Tisch ausbreiten konnte. Wie winzig die Inseln aussahen, umgeben von endlosen Sümpfen. Kilometerweit erstreckten sich in alle Richtungen die Kapillaren und Venen der Kanäle, die zweimal täglich, so regelmäßig wie der Mond, Wasser herein- und hinauspumpten. Seit tausend Jahren dienten die wenigen großen Kanäle - die bei Chioggia, Malamocco und San Nicolò -als Schlagadern, die das Wasser sauber hielten, selbst damals, als die Serenissima auf der Höhe der Macht war und Hunderttausende in ihr wohnten, die tagtäglich ihren Unrat ins Wasser kippten.
    Brunetti besann sich, bevor dieser Gedanke in die gewohnten Bahnen mündete. Er rief sich ins Gedächtnis, was Paola ihm vorgestern abend über diesen verdrießlichen Römer erzählt hatte, der sich das Leben durch sein Mißvergnügen an der Gegenwart vergällen ließ und sich dauernd in die bessere Vergangenheit zurücksehnte, von der er wußte, daß sie verloren war; und damit riß er seine Gedanken nun endgültig von der Historie los und wandte sie der Geographie zu.
    Was die Karte zeigte, war von solch gewaltigen Ausmaßen, daß es ihm in Erinnerung rief, wie schlecht er sich dort auskannte und wie wenig er über die Regeln wußte, nach denen in diesen Gewässern gespielt wurde, sowie über die Zuständigkeiten bei der Strafverfolgung. Wenn die Fälle dort mehr oder weniger nach Lust und Laune zugeteilt oder einfach dem übertragen wurden, der zuerst da war, wie sollte man dann erwarten können, daß es eine halbwegs vollständige Erfassung der Geschehnisse in der Lagune gab?
    Große Fische kamen, wie er vermutete, aus der Adria; woher kamen die Muscheln und Garnelen? Welche Stellen in der Lagune noch legal abgefischt werden durften, wußte er nicht, aber er nahm an, daß die Untiefen vor Marghera samt und sonders gesperrt waren. Wenn aber stimmte, was Bonsuan gesagt hatte und Vianello befürchtete, dann wur-den sogar dort noch immer Meeresfrüchte herausgeholt.
    Manchmal ging er mit Paola zum Rialto, um Fisch zu kaufen, und von daher erinnerte er sich an die oft gesehenen Schildchen auf schillernden Fischhäuten: »Nostrani« - als ob allein die Versicherung, daß es sich um »heimischen« Fisch handelte, ihn mit Gesundheit und Qualität ausstattete, ihn vom bloßen Gedanken an Kontamination reinwusch. Solche Schildchen hatte er auch schon auf Kirschen, Pfirsichen und Pflaumen gesehen, und auch da setzte man auf die gleiche Magie: Schon daß es sich um italienisches Obst handelte, genügte offenbar, um es von Giften und sonstiger Chemie zu säubern und ihm den Reinheitsgrad von Muttermilch zu verleihen.
    Er hatte einmal ein Buch gelesen, in dem es darum ging, was die Menschen im Lauf der Geschichte so alles gegessen hatten, und er wußte von daher, daß seine Vorfahren alles andere als nur gute, gesunde Nahrung frisch aus dem Garten Eden zu sich genommen hatten, vielmehr hatten sie sich mit jedem Bissen Unmengen an Giften einverleibt und mit jedem Schluck Milch eine Erkrankung an Tuberkulose oder Schlimmerem riskiert.
    Unzufrieden mit der eigenen Unzufriedenheit, faltete er die Karte wieder zusammen und brachte sie zurück. »Paola«, rief er in den hinteren Teil der Wohnung, »komm, wir gehen einen trinken.«
    Die erste Nachricht, die ihn am Montag morgen ereilte, war die, daß er entgegen dem Plan nun doch in Pattas Abwesenheit die Questura leitete. Es stellte sich heraus, daß Marotta für eine Woche nach Turin zurückbeordert worden war, um in einem Prozeß auszusagen. Er hatte mit besagtem Fall gar nicht unmittelbar zu tun gehabt, sondern zwei seiner Leute hatten sechs mutmaßliche Waffenhändler dingfest gemacht, und es war höchst unwahrscheinlich, daß er überhaupt vor Gericht würde auftreten müssen, weshalb er durchaus nicht unbedingt hätte hinfahren müssen, doch da es sowohl eine Heimfahrt auf Staatskosten als auch Reisetagegelder bedeutete, war er der Vorladung gefolgt und hatte Brunetti eine Mitteilung hinterlassen, daß seine Anwesenheit in Turin für einen erfolgreichen Abschluß des Prozesses unerläßlich sei und es sicher im Sinne des Vice-Questore sei, wenn er Brunetti das Kommando übergebe.
    Im Verlauf des Vormittags rief Brunetti wiederholt bei Signorina Elettra an, doch da es ihre Gewohnheit war, die Questura in Abwesenheit des Chefs

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