Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
nicht mit ihrer Anwesenheit zu überlasten, konnte er nicht sicher sein, ob sie nur beschlossen hatte, bis mittags zu schlafen, oder schon nach Pellestrina gefahren war. Als um elf Uhr sein Telefon klingelte, war er über die Maßen erleichtert, ihre Stimme zu hören.
»Wo sind Sie, Signorina?« fragte er freundlich.
»Am Strand von Pellestrina, Commissario, auf der Adria-Seite. Wußten Sie schon, daß dieses havarierte Schiff da nicht mehr liegt?« Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ich war ganz überrascht, daß es weg war. Meine Kusine sagt, sie hätten es letztes Jahr abgeschleppt. Es fehlt mir richtig.«
»Seit wann sind Sie dort, Signorina?«
»Seit Samstag, kurz vor Mittag, weil ich hier soviel Zeit wie möglich haben wollte.«
»Und was haben Sie zu Ihrer Kusine gesagt?«
Er vernahm den schrillen Schrei einer Möwe. »Daß es mir leid tut, so lange nicht mehr hier draußen gewesen zu sein, aber daß ich jetzt mal für eine Weile aus der Stadt wollte«, sagte sie, dann hatte die Möwe wieder etwas dazwischenzurufen. Als der Vogel fertig war, fuhr Signorina Elettra fort: »Ich habe Bruna erzählt, ich hätte una storia gehabt, die schlecht endete, und jetzt wollte ich von allem fort, was mich an ihn erinnern könnte. Stimmt ja auch«, fügte sie in sanfterem Ton hinzu, und natürlich hätte Brunetti nur zu gern gewußt, wer der Mann war und warum es geendet hatte.
»Was haben Sie ihr gesagt, wie lange Sie bleiben wollen?«
»Da habe ich mich nicht festgelegt. Mindestens eine Woche, wahrscheinlich länger, je nachdem, wie ich mich fühle. Aber es geht mir jetzt schon besser; die Sonne ist herrlich und die Luft so völlig anders als in der Stadt. Ich könnte hier für immer bleiben.«
Bevor er es verhindern konnte, sprach der Bürokrat aus ihm: »Das meinen Sie doch hoffentlich nicht ernst.«
»Nur so eine Redensart, Commissario.«
»Was haben Sie nun vor?«
»Ich werde am Strand spazieren und sehen, wen ich da so treffe. In der Bar einen Kaffee trinken und hören, was es Neues gibt. Mit Leuten reden. Angeln gehen.«
»Also ein völlig normaler Urlaub auf Pellestrina?« fragte Brunetti.
»So ist es«, antwortete sie, und die Möwe hatte dem nichts hinzuzufügen. Mit dem Versprechen, ihn wieder anzurufen, unterbrach Signorina Elettra die Verbindung.
14
A ls Elettra Zorzi das telefonino wieder in ihre linke Jackentasche steckte, war sie froh, daß sie die Wildlederjacke angezogen hatte, nicht die wollene. Die Taschen waren tiefer, das kleine Mobiltelefon, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, war darin besser aufgehoben. Sie paßte auch besser zu der marineblauen Hose, obwohl Elettra nicht ganz glücklich über deren Kombination mit den Wanderschuhen war, die sie für Strandspaziergänge mitgebracht hatte. Glatt- und Veloursleder zusammen, das hatte sie noch nie gemocht, und sie wünschte sich jetzt, sie hätte doch diese rehbraunen Wildleder-Mokassins gekauft, die sie bei Fratelli Rossetti im Ausverkauf gesehen hatte.
Die Möwe schrie wieder, doch Elettra kümmerte sich nicht darum. Als der Vogel sie dennoch weiter ankrächzte, drehte sie sich um und ging ein paar Schritte auf ihn zu, worauf er sich in die Lüfte schwang und in Richtung Riserva Caroman davonflog. Wie die meisten Venezianer nahm sie Möwen hin, haßte aber Tauben, diese ständigen Ärgernisse, die mit ihren Nestern die Regenrinnen der Häuser verstopften und mit ihren Hinterlassenschaften Marmor in Meringe verwandelten. Sie dachte an die Touristen, die sie oft mit Tauben auf den Köpfen und Armen auf der Piazza San Marco stehen sah, und schüttelte sich: Geflügelte Ratten.
Sie spazierte weiter am Strand entlang, immer fort vom Dorf, und freute sich an der Sonne auf ihrem Rücken. Sie hatte nichts weiter im Sinn, als bis nach San Pietro in Volta zu gehen und dort einen Kaffee zu trinken, bevor sie nach Pellestrina zurückkehrte. Bei jedem ihrer immer länger werdenden Schritte merkte sie, wieviel sie in letzter Zeit am Schreibtisch gesessen hatte und wie wohl es ihrem Körper tat, einfach im Sonnenschein am Strand zu spazieren.
Ihre Kusine Bruna hatte sich, als sie vor einer Woche bei ihr anrief, anscheinend gar nicht darüber gewundert, daß Elettra für eine Woche hierherkommen wollte. Nur auf die Frage, wieso Elettra sich so kurzfristig freinehmen könne, hatte sie ihr wenigstens mit der halben Wahrheit geantwortet: Sie und ihr Freund hätten schon vor Monaten eine zweiwöchige Frankreichreise geplant, aber ihre
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