Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
dann fuhr sie fort: »Eine Hure war sie, und rauschgiftsüchtig, und über ihre Familie hat sie Krankheit und Schande gebracht. Es überrascht mich gar nicht, daß sie tot ist, auch nicht, daß sie auf diese Weise gestorben ist. Mich wundert nur, daß es so lange gedauert hat.« Sie verstummte für einen Augenblick, dann fügte sie in so salbungsvollem Ton, daß Brunetti die Augen schließen mußte, hinzu: »Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Nachdem Brunetti der angesprochenen Gottheit genügend Zeit gelassen hatte, die Bitte zur Kenntnis zu nehmen, fragte er: »Sie sagen, daß sie eine Prostituierte war, Signora? Auch als sie hier wohnte? War sie es da immer noch?«
»Sie war schon als Mädchen und als junge Frau eine Hure. Wenn eine Frau mit so etwas erst anfängt, ist sie besudelt, und sie verliert nie den Geschmack daran.« Aus ihrer Stimme sprachen Gewißheit und Ekel. »Sie muß es also auch jetzt noch getrieben haben. Das liegt doch auf der Hand.«
Brunetti blätterte um, kramte seinen Gesichtsausdruck zusammen und sah mit einem ermutigenden Lächeln auf. »Wissen Sie jemanden, der vielleicht ihr Kunde war?« Er sah sie schon den Mund zur Antwort öffnen, doch dann fielen ihr die möglichen Folgen übler Nachrede ein, und sie schloß ihn wieder.
»Oder haben Sie jemanden im Verdacht, Signora?« Als sie immer noch zögerte, klappte er sein Notizbuch zu, legte es auf den Tisch, schraubte den Füller zu und legte ihn obendrauf. »Manchmal ist es für uns einfach wichtig, Signora, wenigstens ungefähr zu wissen, was sich abspielt, selbst wenn wir keine Beweise haben. Es kann uns nämlich auf die richtige Fährte bringen, wenn wir erst einmal wissen, wo wir zu suchen anfangen sollten.« Sie blieb weiter stumm, also fuhr er fort: »Und da können nur die couragiertesten und rechtschaffensten Bürger uns helfen, Signora, vor allem in Zeiten, in denen die meisten Leute nur allzu bereitwillig die Augen verschließen vor Unmoral und Verhaltensweisen, die unsere Gesellschaft verderben, weil sie die Einheit der Familie zerstören.« Er war kurz versucht gewesen, sich sogar auf die »geheiligte Einheit« der Familie zu berufen, fand das dann aber doch übertrieben und begnügte sich mit dem geringeren Unsinn. Für Signora Boscarini genügte er jedoch.
»Stefano Silvestri.« Der Name schlüpfte ihr glatt von den Lippen: Es war der Mann, der ihm so groß und breit erklärt hatte, daß er einmal wöchentlich mit seiner Frau zu den größeren Geschäften auf dem Lido fuhr. »Andauernd war der in ihrem Laden, wie ein Hund, der an einer Hündin herumschnüffelt, ob sie für ihn bereit ist.«
Brunetti nahm die Auskunft mit den üblichen Zustimmungslauten entgegen, griff aber nicht nach seinem Notizbuch. Dieser Akt der Diskretion ermutigte zum Fortfahren: »Sie hat es ja immer so hinzustellen versucht, als ob sie gar kein Interesse hätte, und sich über ihn lustig gemacht, wenn jemand zuhörte, aber ich weiß, worauf sie aus war. Alle wußten das. Sie hat ihn aufgereizt.« Brunetti hörte ruhig zu und versuchte sich zu erinnern, ob er diese Frau aus der Kirche hatte kommen sehen; es hätte ihn schon interessiert, was Kirchgang für einen Menschen wie sie bedeutete.
»Fällt Ihnen noch ein Mann ein - oder mehrere Männer, die sich mit ihr eingelassen haben könnten?« fragte er.
»Es wurde geredet«, sagte sie, nur allzu erpicht darauf, ihm zu berichten. »Auch ein verheirateter Mann«, erzählte sie, nachdem die Lippen frisch angefeuchtet waren. »Ein Fischer.« Im ersten Moment dachte er, sie werde ihm gleich den Namen nennen, aber dann sah er sie die Folgen abwägen, und sie sagte nur: »Da waren bestimmt noch ganz viele.« Als Brunetti stumm blieb, fügte sie hinzu: »Sie hat die Männer doch provoziert.«
»Natürlich«, gestattete er sich zu antworten, während er sich gleichzeitig fragte, was schlimmer wäre: Tod auf See oder weitere vierunddreißig Jahre mit dieser Frau? Er merkte ihr an, daß sie ihm jetzt nichts weiter verraten wollte, und in der Hoffnung, daß sie ihm neben gehässigem, eifersüchtigem Tratsch auch wirkliche Informationen gegeben hatte, stand er auf, steckte Notizbuch und Füller ein und sagte: »Danke für Ihre Hilfe, Signora. Ich versichere Ihnen, daß alles, was Sie mir gesagt haben, streng vertraulich behandelt wird. Und wenn Sie mir die persönliche Bemerkung gestatten: Es kommt selten vor, daß Zeugen so gern bereit sind, uns Auskünfte dieser Art zu geben.« Es war ein harmloser Stich, der
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