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Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Titel: Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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kleineren Dörfern. Man könnte sogar in einer Art mathematischer Gleichung die Kleinheit einer Gemeinde in Beziehung zum prozentualen Anteil ihrer Kirchgänger setzen. Überhaupt nie in die Messe gehen ungenierte Heiden wie die Römer und Mailänder, weil die Millionen, zwischen denen sie leben, sie vor den Augen und Zungen ihrer Mitmenschen schützen. Hingegen nehmen die Pellestrinotti es mit ihrem Messebesuch sehr genau, denn regelmäßiger Kirchgang macht es ihnen möglich, sich über das Tun und Lassen ihrer Nachbarn auf dem laufenden zu halten, ohne naseweis zu erscheinen, denn alles, was sich ereignet hat, zumal wenn es geeignet sein könnte, irgend jemandes Tugend oder Ehrlichkeit in Frage zu stellen, wird unfehlbar am Sonntag morgen auf der Kirchentreppe durchgehechelt.
    Dort warteten denn auch kurz vor zwölf Uhr - als die Elf-Uhr-Messe gerade zu Ende gegangen und den Dorfbewohnern von Pellestrina ein letztes »Gehet hin in Frieden« mitgegeben worden war - Brunetti und Vianello.
    Wie er so auf den Kirchenstufen stand, dachte Brunetti bei sich, daß Religion ihm - obwohl er sich dessen nie bewußt gewesen war, bis Paola ihn darauf hinwies - immer ein gewisses Unbehagen bereitete. Paola hatte aus seiner Sicht das große Glück gehabt, mehr oder weniger religionsfrei aufgewachsen zu sein, denn ihre Eltern hatten es beide nie nötig gefunden, kirchlichen Veranstaltungen beizuwohnen, jedenfalls nicht solchen, die man zum Zwecke religiöser Pflichterfüllung besuchte. Ihre gesellschaftliche Stellung verlangte ihnen manchmal die Teilnahme an irgendwelchen Zeremonien ab, zum Beispiel der Investitur von Bischöfen und Kardinalen, sogar der Krönung - falls das der richtige Ausdruck dafür ist - des derzeitigen Papstes. Aber diese Zeremonien hatten nichts mit Glauben zu tun, sondern nur mit Macht, und die war - sagte Paola - so-wieso das eigentliche Anliegen der Kirche.
    Da sie also ebenso unbelastet von jedem Glauben war wie von allen religiösen Verpflichtungen, hatte sie nie einen Widerwillen gegen Religion als solche entwickelt, nicht die Spur, und beobachtete die Riten, mit denen die Leute den Vorschriften ihrer jeweiligen Religion Genüge taten, mit anthropologischem Abstand. Brunetti hingegen war von einer gläubigen Mutter erzogen worden, und obwohl er selbst seinen Glauben schon als Heranwachsender abgelegt hatte, trug er die Erinnerung daran noch in sich, auch wenn es die an einen betrogenen Glauben war. Er wußte, daß er Religionen ablehnend bis feindlich gegenüberstand; mochte er noch so sehr dagegen ankämpfen, er konnte weder dieser Feindschaft entfliehen noch den Schuldgefühlen, die sie ihm verursachte. Paola hielt ihm dafür gern ein Zitat von Wordsworth vor: »Da möcht' ich eher Heide sein, genährt von einem überlebten Glauben...«
    Das alles schwirrte Brunetti durch den Kopf, wie er da auf den Kirchenstufen wartete, um zu sehen, wer alles herauskommen und was für neue Erkenntnisse ihm das bringen würde. Eine Orgel begann zu spielen, doch die Reinheit ihres Klanges sprach mehr für die gute Akustik in der Kirche als für das Talent des Organisten. Die Türen gingen auf, die Musik schwoll an und ergoß sich die Treppe herunter, rasch gefolgt von den ersten Gemeindemitgliedern. Bei ihrem Anblick fiel Brunetti nicht zum erstenmal auf, wie gehetzt die Gesichter von Leuten wirkten, die gerade aus der Kirche kamen.
    Wären sie eine Viehherde gewesen, Schafe, die über einen niedrigen Zauntritt auf eine neue Wiese sprangen, ihr plötzliches Erschrecken über den Anblick von etwas Fremde hätte nicht offenkundiger sein können, auch nicht die Welle des Unbehagens, die sich von vorn nach hinten fortpflanzte und jeden in dem Moment erfaßte, in dem er die potentielle Gefahr erkannte, die auf den Stufen seiner harrte. Wenn Vianello nicht in Uniform gewesen wäre, zweifellos hätte manch einer von ihnen einfach so getan, als ob er die beiden Männer gar nicht gesehen hätte. Auch so gaben sich einige noch große Mühe, keine Notiz von ihnen zu nehmen, obwohl Vianellos weiße Uniformmütze so weithin sichtbar war wie die Heiligenscheine an den Figuren, die sie soeben in der Kirche zurückgelassen hatten.
    Brunetti studierte, möglichst ohne es sich anmerken zu lassen, die Gesichter der Vorbeikommenden. Zuerst glaubte er, was er sah, sei das Ergebnis ihrer bewußten Anstrengung, sowohl unschuldig als auch unwissend auszusehen, aber dann merkte er, daß es die Folge einer eingeschränkten Geographie war:

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