Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Viele ähnelten einander. Die Männer waren alle von kleiner Gestalt, ihre Köpfe rund, die Augen standen eng beieinander. Den im allgemeinen muskulösen Körperbau schrieb er ihrem Beruf zu, ebenso die sonnenverbrannten, tief zerfurchten Gesichter aller, auch der jüngsten. Die Frauen zeigten eine größere Vielfalt in der Erscheinung, obwohl sich eine gewisse Korpulenz all derer bemächtigt zu haben schien, die über dreißig waren.
An diesem Morgen blieb niemand auf der Kirchentreppe stehen, um mit den Nachbarn zu plauschen. Vielmehr gehorchte die ganze Gemeinde einem irgendwie geschlossen ergangenen und sehr dringenden Ruf nach Hause. Zu sagen, daß sie flüchteten, wäre übertrieben, nicht aber, daß sie sich scheu und sehr zügig entfernten.
Nachdem die letzten fort waren, wandte Brunetti sich an Vianello in der Hoffnung, seine Enttäuschung ein wenig dadurch lindern zu können, daß er ihn fragte, ob der Mißerfolg wohl der Uniform des Sergente zuzuschreiben sei. Doch ehe er etwas sagen konnte, sah er Signorina Elettra aus der Bar links von der Kirche kommen. Das heißt, er sah sie nur ganz kurz vor dieser Bar erscheinen und sofort wieder halb hineingehen. Gleich darauf kam sie ganz heraus, und als sie von der Tür wegtrat, sah er den Grund für den Aufenthalt: Ein junger Mann, der ihre Hand hielt, rief etwas nach hinten in die Bar. Was immer er gesagt hatte, es verursachte brüllendes Gelächter aus mehr als einer Kehle, worauf Signorina Elettra einmal kräftig an seinem Arm ruckte und ihn so schließlich von der Tür wegriß.
Der junge Mann kam ihr nach, legte ihr mit einer Selbstverständlichkeit, die nach langer Vertrautheit aussah, einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. Sie reagierte darauf ohne jede Koketterie, indem sie den linken Arm um seine Taille legte und neben ihm Schritt aufnahm. So kamen sie auf die beiden Polizisten zu, die sie bisher noch nicht gesehen hatten. Der Mann, der wesentlich größer war als sie, bückte sich zu ihr hinunter und sagte etwas; Elettra legte den Kopf in den Nacken und sah mit einem Lächeln zu ihm auf, das Brunetti noch nie an ihr gesehen hatte. Der Mann bückte sich tiefer und küßte sie auf den Kopf, wozu sie beide kurz stehenbleiben mußten. Als er den Kopf wieder hob, erblickte er Brunetti und Vianello auf der Kirchentreppe und blieb unvermittelt stehen.
Signorina Elettra sah überrascht zu dem jungen Mann auf und folgte seinem Blick. Die Worte, die ihr darauf entfuhren, gingen in den ersten Schlägen der Kirchturmuhr unter. Aber schon lange vor dem zwölften Schlag gewann sie ihre Fassung wieder und richtete ihre Aufmerksamkeit, die vom unerwarteten Anblick eines Polizisten auf der Kirchentreppe momentan abgelenkt worden war, wieder auf die ernste Frage, wohin sie mit ihrem neuen Freund zum Essen gehen sollte.
Nachdem sie eine Stunde lang versucht hatten, mit den Leuten von Pellestrina ins Gespräch zu kommen, sah Brunetti ein, daß dabei nichts herauskommen würde, bevor sie nicht alle zu Mittag gegessen hätten. Also zogen er und Vianello sich ins Restaurant zurück und nahmen ein schweigsames Mahl zu sich, das beide nicht recht genießen konnten, obwohl die Zutaten frisch waren und der Wein prickelte. Sie fanden es besser, sich jetzt zu trennen, weil sie hofften, daß die Sympathien, die Vianello sich im Gespräch bereits erworben hatte, die unausweichliche Reaktion auf seine Uniform vielleicht besiegen würden.
In den ersten beiden Häusern bekam Brunetti zu hören, daß man Signora Follini gar nicht so gut gekannt habe; einer der Männer ging sogar so weit, zu behaupten, daß er einmal die Woche das Auto nehme und zusammen mit seiner Frau zum Lido fahre, weil im hiesigen Laden die Preise viel zu hoch und einige der angebotenen Waren nicht mehr frisch seien. Der Mann war ein jämmerlich schlechter Lügner, was seine Frau sich zu ignorieren bemühte, indem sie mit vier Porzellanfigürchen herumhantierte, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Dackeln hatten. Brunetti bedankte sich bei beiden und ging.
In den nächsten beiden Häusern machte niemand auf, vielleicht weil man nicht wollte, vielleicht weil wirklich keiner da war. Dagegen wurde die dritte Tür schon geöffnet, ehe Brunetti auch nur richtig angeklopft hatte, und schon stand er vor dem Traum eines jeden Polizisten: der wachsamen Nachbarin. Er erkannte sie auf den ersten Blick an ihren schmalen Lippen, dem ungeduldigen Blick, der leicht vornübergebeugten Haltung. Daß sie sich nicht die
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