Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Patta, sein Chef, mittlerweile an seinem Schreibtisch. Brunetti ging nach unten, ohne sich erst telefonisch anzumelden, und trat in das kleine Vorzimmer, das in das viel größere Dienstzimmer des Vice-Questore führte.
Pattas Sekretärin, Signorina Elettra Zorzi, saß an ihrem Schreibtisch, vor sich ein aufgeschlagenes Buch. Es überraschte ihn, sie im Dienst ein Buch lesen zu sehen, denn er war es gewohnt, sie vor Zeitungen und Illustrierten anzutreffen. Da sie das Kinn auf die Handballen gestützt und die Finger über den Ohren hatte, sah er erst, als sie bei seinem Eintreten den Kopf hob, daß sie sich die Haare hatte schneiden lassen. Sie waren kürzer als sonst, und wenn ihre runde Gesichtsform und das Vermillon ihrer Lippen nicht so ausgesprochen weiblich gewesen wären, hätte dieser Haarschnitt streng auf ihn gewirkt, beinah maskulin.
Er wußte nicht, wie er auf ihr neues Aussehen hätte eingehen können, und da er wie alle anderen Leute in einer Stadt, in der es seit drei Monaten nicht mehr geregnet hatte, die Frage satt hatte, wann es wohl wieder einmal regnen werde, fragte er, indem er mit dem Kopf in Richtung Buch deutete: »Mal etwas Seriöseres als sonst?«
»Veblen«, antwortete sie, »Theorie der feinen Leute«.
Er fühlte sich geschmeichelt, als sie ihn nicht erst fragte, ob er das Buch kenne.
»Ist das nicht ein bißchen schwer verdaulich?«
Sie bejahte und meinte dann: »Hier kommt man ja nie dazu, einmal etwas Seriöses zu lesen, wenn man dauernd gestört wird.« Sie schürzte die Lippen und ließ ihren Blick durchs ganze Vorzimmer schweifen, über das Telefon und den Computer bis hin zu Pattas Tür. »Aber es hat sich ja einiges geändert, so daß ich meine Zeit jetzt besser nutzen kann.«
»Gut zu wissen«, meinte Brunetti, um mit einem Blick auf das Buch hinzuzufügen: »Seine Ansichten über Rasenanlagen haben mich fasziniert.«
Sie lächelte zu ihm auf. »Ja, und über Zeitvertreib.«
Er konnte nicht widerstehen. »Und wenn Sie das ausgelesen haben?«
»Danach habe ich noch nichts vor.« Plötzlich strahlte sie. »Vielleicht kann ich mir ja vom Vice-Questore einen Rat geben lassen.«
»Recht so«, versetzte Brunetti. »Übrigens will ich zu ihm. Ist er da?«
»Noch nicht. Er hat vor ungefähr einer Stunde angerufen und gesagt, daß er in einer Besprechung ist und wahrscheinlich erst nach dem Mittagessen kommt.«
»Ah«, machte Brunetti, den nicht die Mitteilung als solche überraschte, sondern nur, daß Patta es für nötig befunden hatte, deswegen anzurufen. »Wenn er kommt, sagen Sie ihm bitte, daß ich nach Pellestrina gefahren bin.«
»Zu Vianello?« fragte sie sofort, allwissend wie immer.
Er nickte. »Einer der beiden Männer in dem Boot wurde anscheinend ermordet.« An dieser Stelle unterbrach er sich, nicht sicher, ob sie das nicht auch schon wußte.
»Pellestrina, aha«, meinte sie, und es klang, obwohl es so gemeint war, nicht fragend, sondern mehr nach einer bloßen Feststellung.
»Ja. Diese Leute sind doch eine einzige Plage, wie?«
»Nicht so schlimm wie die Chiogiotti«, antwortete sie mit einem Schaudern, das weder geziert noch künstlich wirkte.
Chioggia war eine Stadt auf dem Festland, in Reiseführern unverdrossen als »getreue Tochter Venedigs« bezeichnet, denn sie war der Serenissima, solange ihre Herrschaft währte, durchaus immer treu gewesen. Ständige Reibereien und Gewalttätigkeiten gab es erst jetzt, seit die Fischer beider Städte sich um die immer kleineren Fänge in Gewässern stritten, die zunehmend von den Auflagen des Magistrato alle Acque betroffen waren, denn in immer größeren Teilen der Lagune war der Fischfang verboten.
Der Gedanke, daß die jüngsten Todesfälle etwas mit diesem Konkurrenzkampf zu tun haben könnten, war Brunetti durchaus schon gekommen, und keinem Venezianer wäre es anders ergangen. Es hatte in der Vergangenheit schon Kämpfe gegeben, bei denen auch Schüsse gefallen waren, aber so etwas wie jetzt war bisher noch nicht passiert. Es waren Boote gestohlen und angezündet worden, auch waren schon Männer bei Kollisionen auf dem Wasser umgekommen, aber kaltblütig gemordet hatte bisher noch keiner. »Una brutta razza«, erklärte Signorina Elettra mit jener Geringschätzung im Ton, die alle, deren Familien schon seit den Kreuzzügen Venezianer sind, für alle Nichtvenezianer hegen, gleich welcher Herkunft diese sind.
Brunetti übte sich in der gebotenen Zurückhaltung, indem er seinen zustimmenden Kommentar für
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