Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
»Ascot, Erdbeeren und Wimbledon, wie?«
»Ich habe eher bei meiner Tante in Surrey die Ställe ausgemistet«, versetzte Claudia in ebenso akzentfreiem Englisch.
»Wenn Ihr Deutsch genauso gut ist, dann muß es ganz phantastisch sein«, sagte Paola nicht ohne eine Spur von Neid.
»Oh, ich habe nur selten Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, aber ich lese es immer noch gern. Außerdem«, sagte sie und stützte ihre Bücher wieder auf die Hüfte, »gibt's auf dem italienischen Buchmarkt ja nichts Verläßliches über den Zweiten Weltkrieg.«
»Ich glaube, mein Mann wird sich gern mit Ihnen unterhalten, Claudia. Er interessiert sich sehr für Geschichte, und was Sie da sagen, höre ich von ihm schon seit Jahren.«
»Wirklich? Er liest?« fragte Claudia. Und als sie merkte, wie beleidigend das klang, fügte sie matt hinzu: »Ich meine, Geschichtsbücher. «
»Ja«, antwortete Paola, sammelte ihre Notizen ein und widerstand der Versuchung, hinzuzufügen, daß ihr Mann auch des Schreibens kundig sei. Statt dessen sagte sie mit gleichbleibend liebenswürdiger Stimme: »Vor allem die der Römer und Griechen. Die Lügen, die sie erzählen, ärgern ihn offenbar weniger als die unserer zeitgenössischen Historiker, sagt er jedenfalls.«
Darüber lächelte Claudia. »Ja, das kann ich verstehen. Würden Sie ihm sagen, daß ich ihn anrufen werde, wahrscheinlich schon morgen? Und daß ich sehr gespannt bin, ihn kennenzulernen?«
Paola konnte nur staunen über die Unbefangenheit, mit der dieses attraktive junge Ding einer anderen Frau versicherte, wie begierig sie darauf sei, ihren Mann kennenzulernen. Das Mädchen war keineswegs dumm, also konnte es sich nur um eine Arglosigkeit handeln, wie Paola sie schon seit geraumer Zeit bei keinem ihrer Studenten mehr festgestellt hatte, oder um ein anderes, ihr unbekanntes Motiv.
Obwohl es allen Grundregeln über die gebotene Distanz zu den Studenten widersprach, verleitete ihre Neugier auf das, was hinter Claudias Ansinnen stecken mochte, sie zu dem Versprechen: »Gut, ich werd's meinem Mann ausrichten.«
Claudia lächelte und sagte ganz förmlich: »Ich danke Ihnen, Professoressa.«
Gescheit ist sie, dachte Paola, offenbar sehr belesen, mindestens dreisprachig und Älteren gegenüber respektvoll. Man könnte meinen, dieses Mädchen sei auf dem Mars groß geworden.
5
D a Paola ihm am Vorabend gesagt hatte, das Mädchen wolle ihn persönlich sprechen, wußte Brunetti Bescheid, als er einen Anruf von der Pforte bekam und der Posten meldete, unten sei eine junge Frau, die ihn zu sprechen wünsche.
»Wie heißt sie?« fragte Brunetti.
Es dauerte einen Moment, und dann sagte der Wachmann: »Claudia Leonardo.«
»Führen Sie sie bitte nach oben«, entschied Brunetti und legte auf. Er las den letzten Absatz eines sinnlosen Berichts über Haushaltsreformen zu Ende, schob die Akte beiseite, und als er die nächste vom Stapel nahm, geschah das nicht ganz ohne den Hintergedanken, daß er so auf seinen Besuch einen sehr beschäftigten Eindruck machen würde.
Es klopfte, die Tür ging auf, er sah einen uniformierten Arm, der rasch wieder zurückgezogen wurde, und dann eine junge Frau, die zögernd das Büro betrat. Sie wirkte entschieden zu jung für eine Studentin, die sich, laut Paola, bereits auf ihr Abschlußexamen vorbereitete.
Brunetti erhob sich und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Guten Morgen, Signorina Leonardo. Ich freue mich sehr, daß Sie die Zeit gefunden haben, mich zu besuchen«, sagte er in einem Ton, der wohlwollend und vertrauenerweckend klingen sollte.
Ihr rascher Blick verriet ihm, daß sie es gewohnt war, von Älteren gönnerhaft behandelt zu werden, und auch, wie wenig ihr das gefiel. Beide setzten sich. Mit ihrem ovalen Gesicht, dem kurzen dunklen Haar und dem zarten Teint war sie ein hübsches Mädchen, wie fast alle in ihrem Alter; nur daß die anderen selten so intelligent und aufmerksam wirkten wie sie.
»Meine Frau sagte mir, Sie möchten etwas mit mir besprechen«, sagte er, als ihm klar wurde, daß sie ihm die Gesprächsführung überließ.
»Ja, Signore.« Ihre Miene war offen, geduldig.
»Wie ich höre, geht es um die mögliche Begnadigung für eine Tat, die lange zurückliegt und deretwegen, falls ich meine Frau nicht mißverstanden habe, ein Mann verurteilt wurde.«
»Ja, Signore«, wiederholte sie mit so festem Blick, daß Brunetti sich fragte, ob sie darauf gefaßt war, daß er wieder den Gönnerhaften spielte, und bloß neugierig
Weitere Kostenlose Bücher