Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
sie. »So hat es mir zumindest meine Großmutter erzählt. Als abzusehen war, daß man ihn verurteilen würde, erlitt er eine Art Kollaps, und sein Anwalt beschloß auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren.« Und Brunettis Frage vorwegnehmend, fuhr sie fort: »Das hat mich stutzig gemacht, aber meine Großmutter sagt, er sei wirklich zusammengebrochen und habe nicht bloß simuliert, so wie sie's heute tun.«
»Ich verstehe.«
»Und die Richter haben ihm auch geglaubt, darum schickten sie ihn nach der Verurteilung nach San Servolo.«
Im Gefängnis wäre es ihm besser ergangen, dachte Brunetti unwillkürlich, beschloß aber, dem Mädchen diese Einsicht zu ersparen. San Servolo war schon seit Jahrzehnten geschlossen, und vielleicht war es das beste, die Greuel zu vergessen, die sich dort so viele Jahre lang abgespielt hatten. Was geschehen war, war geschehen, nicht nur den anderen Insassen, sondern vermutlich auch ihrem Großvater, und daran war nichts mehr zu ändern. Durch eine Begnadigung, so sie denn möglich wäre, ließe sich immerhin sein Ruf in der Öffentlichkeit wiederherstellen. Falls - hörte er eine zynische innere Stimme flüstern - falls überhaupt noch irgendwer über diese Dinge nachdachte oder sich darum kümmerte, was während des Krieges passiert war.
»Und was genau möchten Sie nun für ihn erwirken? Beziehungsweise Ihre Großmutter?« fügte er hinzu, um ihr mehr Details zu entlocken.
»Was immer ihn entlasten und seinen Namen reinwaschen könnte.« Dann senkte sie Kopf und Stimme und setzte hinzu: »Es ist das einzige, was ich für sie tun kann.« Und noch leiser: »Ihr einziger Wunsch.«
Claudias Anliegen betraf ein Gebiet der Rechtssprechung, mit dem Brunetti nicht vertraut war und das er mithin nur nach allgemeinjuristischen Kriterien beurteilen konnte. Er hatte indes nicht den Mut, dem Mädchen zu sagen, daß das Gesetz diesen Kriterien nicht immer folgte. »Ich denke, was hier in Frage käme, wäre eine Aufhebung oder ein Widerruf des erstinstanzlichen Urteils. Wenn der damalige Richterspruch aufgehoben würde, dann wäre Ihr Großvater rehabilitiert.«
»Öffentlich?« fragte sie. »Ich meine, gäbe es ein offizielles Dokument, das ich meiner Großmutter zeigen könnte?«
»Wenn das Gericht ein neues Urteil fällte, müßte es das auch offiziell bekanntgeben.« Das war die beste Antwort, die er ihr geben konnte.
Sie dachte so lange darüber nach, daß Brunetti schließlich in ihr Schweigen hinein fragte: »Trug er den gleichen Namen wie Sie?«
»Nein. Ich heiße Leonardo.«
»Aber er war doch der Vater Ihres Vaters?«
Sie sagte schlicht: »Meine Eltern waren nicht verheiratet. Mein Vater erkannte mich nicht gleich als seine Tochter an, und so habe ich den Namen meiner Mutter behalten.«
Brunetti äußerte sich lieber nicht dazu, sondern fragte bloß: »Und wie hieß Ihr Großvater?«
»Guzzardi. Luca.«
Der Name weckte ein schwaches Echo in Brunettis Erinnerung. »War er Venezianer?« fragte er.
»Nein, die Familie stammte aus Ferrara. Aber während des Krieges lebten sie hier.«
Der Name der Stadt brachte die Erinnerung nicht näher.
Während er scheinbar über ihre Antwort nachdachte, überlegte Brunetti fieberhaft, bei wem er sich nach dem Kriegsgeschehen in Venedig erkundigen könnte. Die ersten, die ihm einfielen, waren sein Freund Lele Bortoluzzi, der Maler, und sein Schwiegervater Conte Grazio Falier, beides Männer, die den Krieg miterlebt hatten, und beide mit einem ausgezeichneten Gedächtnis gesegnet.
»Aber ich verstehe immer noch nicht«, sagte Brunetti, weil er glaubte, durch scheinbare Verwirrung eher ans Ziel zu kommen als durch unverhohlene Neugier, »was ein gerichtliches Vorgehen jetzt noch bezwecken könnte. Man hätte damals, gleich nach der Verurteilung, in Berufung gehen sollen.«
»Das ist auch geschehen, und das erste Urteil wurde bestätigt; genau wie der Beschluß, meinen Großvater nach San Servolo zu schicken.«
Wieder mimte Brunetti den Verwirrten. »Dann verstehe ich erst recht nicht, wie man heute, nach so vielen Jahren, auf eine Revision hoffen kann oder wer warum so dringend daran interessiert ist.«
Sie musterte ihn so scharf, daß er beschämt die Unschuldsmiene fallenließ - ein billiger Trick, mit dem er versucht hatte, ihr den Namen der Großmutter zu entlocken, der ihn, wie er wohl wußte, aus reiner Neugier interessierte.
Das Mädchen setzte zum Sprechen an, stockte, betrachtete forschend den Commissario, der sich jetzt schon
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