Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
wissen auch nur wenige davon. Und noch weniger wollten etwas darüber erfahren. So haben wir es gleich nach der Befreiung gehalten: Alle beschlossen zu vergessen, was in den letzten zehn Jahren geschehen war, besonders während des Krieges. Außerdem standen wir am Ende auf seiten der Siegermächte, und das machte das Vergessen um so leichter. Und diese Politik des Vergessens haben wir seitdem beibehalten. Ein geschöntes Geschichtsbild, das ist es, was wir wollten und auch bekommen haben.«
Brunetti hatte selten eine bessere Analyse gehört. »Sonst noch was?« fragte er.
»Über das, was sich in diesen Jahren abspielte, könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Aber sobald der Krieg zu Ende war, ging man wieder zur Tagesordnung über, genau wie in Deutschland. Oder nein, dort dauerte es ein bißchen länger, weil sie erst diesen ganzen Entnazifizierungskram durchmachen mußten, auch wenn's nicht viel gebracht hat. Aber diese Schweine von Agenten, die hatten den Rüssel gleich nach dem Krieg wieder im Trog.«
»Du sagst das so, als würdest du sie kennen.«
»Natürlich kenne ich sie. Ein paar von ihnen leben noch. Einer hat bis heute eine 1944 erworbene Kollektion mit Zeichnungen alter Meister in einem Banktresor.«
»Legal erworben?«
Lele schnaubte verächtlich. »Wenn jemand, der um sein Leben bangt, in dieser Notlage einen Kaufvertrag unterzeichnet - und die Guzzardis achteten immer darauf, daß sie einen Vertrag in Händen hatten -, dann gilt der Handel noch heute als legal. Aber wenn jemand diese Zeichnungen aus dem Tresor stehlen und dem ursprünglichen Besitzer zurückgeben würde, dann wäre das bestimmt gesetzwidrig.« Lele ließ etliche Minuten verstreichen, bevor er unvermittelt sagte: »Ich ruf dich an, wenn mir noch was einfällt.« Und dann war die Leitung tot.
9
B runetti hatte den ganzen Nachmittag Zeit, über das, was Lele ihm erzählt hatte, nachzusinnen. Mit dem Zweiten Weltkrieg hatte er sich zwar nie näher befaßt, aber die Vergangenheit bot schließlich genügend Beispiele von Kriegsgewinnlern und Plünderung, so daß auch er sich ein Bild machen konnte - man denke nur an die Eroberung Roms oder die von Konstantinopel: Hatten die Sieger nicht in beiden Fällen gigantische Kunst- und Vermögenswerte beschlagnahmt und mehr noch beim Angriff zerstört? Rom war danach ein Trümmerfeld, und in Byzanz schwelten wochenlang die Ruinen, während die Eroberer plündernd durch die Straßen zogen. Sogar die stolzen Bronzepferde über dem Portal der Basilika von San Marco stammten aus der Kriegsbeute, die das venezianische Heer von diesem Feldzug mit heimbrachte. Gewiß war auch vor dem Untergang Roms oder Konstantinopels Panik ausgebrochen unter denjenigen, die ihr Heil in der Flucht suchten, weil schließlich kein irdischer Besitz, und sei er noch so edel oder kostbar, ein Menschenleben aufwiegt. Vor ein paar Jahren hatte er die Erinnerungen eines französischen Kreuzfahrers gelesen, der an der Belagerung und Erstürmung Konstantinopels beteiligt gewesen war und berichtete, daß »seit der Erschaffung der Welt in keiner andren Stadt so reiche Beute ward gemacht«. Aber was galt das schon angesichts der ungezählten Opfer?
Es war kurz nach sieben, als Brunetti diese Gedanken abschüttelte, wahllos ein paar Akten von einer Schreibtischseite auf die andere schaufelte, damit es nicht so aussah, als habe er an diesem Nachmittag ausschließlich den dunklen Stunden der Menschheitsgeschichte nachgespürt, und sich auf den Heimweg machte.
Er fand Paola wie erwartet in ihrem Arbeitszimmer, wo er sich auf das ramponierte Sofa fallen ließ, von dem sie sich partout nicht trennen wollte. »Du hast mir nie von deinem Vater erzählt«, sagte er zur Begrüßung.
»Was soll ich dir nicht über ihn erzählt haben?« Paola, die aus seinem Ton heraushörte, daß dies ein längeres Gespräch werden würde, schob vorsorglich ihre Notizen beiseite.
»Was er im Krieg gemacht hat.«
»Du sagst das, als hättest du ihn als Kriegsverbrecher entlarvt«, bemerkte sie.
»Kaum«, lenkte Brunetti ein. »Aber heute hat mir jemand erzählt, daß er in den Bergen bei Asiago mit den Partisanen gekämpft hat.«
Sie lächelte. »Nun weißt du also genausoviel wie ich.«
»Wirklich?«
»Absolut. Ich weiß, daß er in ganz jungen Jahren bei den Partisanen war, aber er hat nie mit mir darüber gesprochen, und ich hatte nie den Mut, meine Mutter danach zu fragen.«
»Mut?«
»An ihrem Ton und der Art, wie sie reagierte, wenn
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