Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
er Freunde hatte.« Hier rührte Brunetti an etwas, das er immer für die große Tragödie im Leben seines Vaters gehalten hatte.
»Das ist bei den meisten Männern so, nicht wahr?« fragte sie, aber ihre Stimme klang nur traurig.
»Was meinst du damit? Natürlich haben wir Freunde!« entrüstete sich Brunetti, der ihr Mitleid als kränkend empfand.
»Du weißt, daß ich das anders sehe, Guido, schließlich haben wir oft genug darüber gesprochen. Ich glaube, die meisten Männer haben keine Freunde. Ihr habt bestenfalls Kumpels, Männer, mit denen ihr euch über Sport unterhalten könnt, über Autos oder Politik.« Und nach einigem Nachdenken räumte sie ein: »Gut, da du in Venedig lebst und bei der Polizei bist, kannst du wahrscheinlich die Autos durch Boote und Waffen ersetzen. Aber es geht jedenfalls immer um materielle Dinge, und am Ende läuft es auf das gleiche hinaus: Ihr sprecht nie über eure Empfindungen, eure Ängste, nicht so, wie Frauen es tun.«
»Reden wir jetzt darüber, ob Männer keine Freunde haben, oder darüber, daß wir nicht die gleichen Gesprächsthemen haben wie Frauen? Ich finde, das ist nicht dasselbe.«
Dies war ein altes Streitthema zwischen ihnen beiden, doch Paola hatte heute offenbar keine Lust, es wiederaufzunehmen, nicht, wenn Brunetti so gedrückter Stimmung war und sie überdies für den nächsten Morgen eine anstrengende Vorlesung vorzubereiten hatte. »So schöne Abende gibt es dieses Jahr sicher nicht mehr viele, meinst du nicht auch?« fragte sie und hißte damit gewissermaßen die Friedensfahne. »Wollen wir uns mit einem Glas Wein auf die Terrasse setzen?«
»Die Sonne ist schon untergegangen.« So leicht wollte er nicht einlenken, denn er war immer noch gekränkt wegen der Unterstellung, daß er keine Freunde hätte.
»Dann schauen wir uns eben das Abendrot an. Und ich würde gern neben dir sitzen und deine Hand halten.«
»Gänschen«, sagte er gerührt.
Daß Claudia am nächsten Tag nicht in der Vorlesung war, fiel Paola zwar auf, aber sie dachte sich nichts weiter dabei.
Studenten waren von Haus aus unzuverlässig, auch wenn Claudia eigentlich nicht so gewirkt hatte. Den Grund für ihr Fehlen erfuhr sie durch einen Anruf von Brunetti, der sie am Nachmittag in ihrem Büro an der Universität erreichte.
»Ich habe eine schlechte Nachricht für dich«, begann er. Und da er spürte, daß sie sofort um die Sicherheit ihrer Familie bangte, fuhr er so ruhig wie möglich fort: »Nein, es betrifft nicht die Kinder.« Er ließ ihr einen Moment Zeit, sich zu fassen, und fuhr dann fort: »Es geht um Claudia Leonardo. Sie ist tot.«
In einer blitzartigen Erinnerung sah Paola, wie Claudia sich am Eingang zum Hörsaal umwandte und sagte, der Tod von Lily Bart habe ihr das Herz gebrochen. Sie hatte noch Zeit zu denken: Bitte, mach, daß es jemanden gibt, dem Claudias Tod das Herz bricht, bevor Brunetti fortfuhr: »Jemand ist in ihre Wohnung eingedrungen. Sie wurde ermordet.«
»Wann?«
»Letzte Nacht.«
»Wie?«
»Erstochen.«
»Was ist passiert?«
»Bisher weiß ich nur, daß ihre Mitbewohnerin heute morgen heimkam und sie gefunden hat. Claudia lag am Boden. Es sieht so aus, als hätte sie den Einbrecher überrascht, der geriet in Panik und hat den Kopf verloren.«
»Mit einem Messer in der Hand?« fragte Paola.
»Ich weiß nicht. Ich kann dir nur sagen, wonach es bis jetzt aussieht.«
»Wo bist du?«
»In der Wohnung. Bin gerade angekommen. Ich spreche über Vianellos telefonino.«
»Und warum rufst du an?«
»Weil du sie gekannt hast und ich nicht wollte, daß du es auf anderem Wege erfährst.«
Paola ließ eine längere Pause verstreichen. »Hatte sie einen schnellen Tod?«
»Das hoffe ich« war die einzige Antwort, die er ihr geben konnte.
»Ihre Familie?«
»Ich weiß nicht. Ich sagte ja, ich bin eben erst gekommen. Wir haben uns hier noch nicht mal umgeschaut.« Sie hörte Geräusche im Hintergrund, eine Stimme, zwei Stimmen, dann wieder Brunetti: »Ich muß Schluß machen. Erwarte mich nicht vor heute abend.« Und dann war die Verbindung weg.
Die zu seiner Frau, aber nicht die zur Gegenwart des Todes hier in einer Wohnung in Dorsoduro, unweit der Pensione Seguso, nur zwei Straßen hinter dem Canale della Giudecca.
Er gab Vianello das telefonino zurück, und der steckte es in seine Jackentasche. Brunetti hatte sich noch nicht so recht an den Anblick Vianellos in Zivil gewöhnt, Resultat seiner allzu lange verschleppten Beförderung zum Ispettore.
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