Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Signore. Aber das mit der schlechten Publicity, das ist schon eine Schande.«
»Ja, nicht wahr?« bestätigte Patta. Dann konzentrierte er sich ostentativ auf seine Akten, während Brunetti alles daransetzte, Pattas Büro zu verlassen, ohne noch einmal den Mund aufzumachen.
Dabei erinnerte er sich an eine Szene, die er einmal, es mußte jetzt vier Jahre her sein, zusammen mit Paola beobachtet hatte. Sie waren in einer Ausstellung des kolumbianischen Malers Boterò gewesen, Paola ganz fasziniert von der überschwenglichen Vitalität seiner dicken, teiggesichtigen Männer und Frauen, die alle den gleichen winzigkleinen Rosenmund hatten. Vor ihnen war eine Schulklasse mit höchstens acht- oder neunjährigen Kindern. Als er und Paola in den letzten Ausstellungsraum kamen, hörten sie die Lehrerin sagen: »Also, ragazzi, wir gehen jetzt, aber hier sind noch viele andere Besucher, die nicht durch Lärm oder Geschwätz gestört werden möchten. Darum machen wir jetzt alle«, und hier deutete sie auf ihre Lippen, die sie rund und spitz vorstülpte, »la bocca ài Boterò«. Worauf die Kinder entzückt einen Finger an die Lippen legten und die Münder so fest zusammenpreßten, wie sie es auf den Bildern vor sich sahen, und auf Zehenspitzen kichernd den Saal verließen. Seitdem behalfen sich er und Paola, wann immer ihnen in Gesellschaft eine Taktlosigkeit widerfuhr, mit la bocca di Boterò und ersparten sich damit zweifellos eine Menge Ärger, ganz zu schweigen von Zeitaufwand und vergeudeter Energie.
Signorina Elettra hatte offenbar ihre Zeitung ausgelesen, denn als Brunetti aus Pattas Büro kam, blätterte sie angelegentlich in einer Akte. »Signorina«, begann er, »ich hätte da einige Aufgaben für Sie.«
»Ja, Signore?« Sie schloß die Akte ohne den geringsten Versuch, den Vermerk VERTRAULICH zu verdecken, der in roten Lettern fettgedruckt über die linke Hälfte des Deckels lief, oder Tenente Scarpas Namen, der quer obendrüber stand.
»Ein bißchen Entspannungslektüre?« fragte er.
»Sehr entspannend«, erwiderte sie hörbar verächtlich und schob den Ordner beiseite. »Was kann ich für Sie tun, Signore?«
»Fragen Sie Ihren Freund bei der Telecom, ob er Ihnen eine Liste der Anrufe besorgen kann, die von der Wohnung des Mädchens geführt und angenommen wurden. Und er möchte feststellen, ob sie oder Lucia Mazzotti - die Mitbewohnerin - ein telefonino besitzt. Und sehen Sie zu, was Sie über Claudia herausfinden können: Hatte sie eine Kreditkarte oder ein Bankkonto? Jede Information hinsichtlich ihrer finanziellen Verhältnisse wäre hilfreich.«
»Haben Sie ihre Wohnung durchsucht?« fragte Signorina Elettra dazwischen.
»Noch nicht gründlich. Aber heute nachmittag schicke ich ein Team von der Spurensicherung hin.«
»Gut, dann sollen die mir alle Unterlagen mitbringen, die sie finden.«
»Ja, in Ordnung«, sagte er.
»Sonst noch was?«
»Nein, im Moment fällt mir nichts weiter ein. Aber wir wissen ja auch noch nicht viel. Wenn Sie in den Papieren auf etwas Interessantes stoßen, gehen Sie dem nach.« Und als er ihren fragenden Gesichtsausdruck sah, erklärte er: »Briefe von einem Verehrer. Das heißt, falls solche Briefe heute überhaupt noch geschrieben werden.« Und bevor sie danach fragen konnte, ergänzte er: »Ja, und lassen Sie sich auch ihren Computer herbringen.«
»Und Sie, Commissario?« fragte sie.
Statt zu antworten, sah er auf die Uhr, weil er plötzlich merkte, wie hungrig er war. »Ich werde meine Frau anrufen«, sagte er. Und setzte schon im Gehen hinzu: »Danach bin ich in meinem Büro und warte auf Rizzardis Anruf.«
Der Gerichtsmediziner meldete sich erst lange nach fünf, als Brunetti vor lauter Hunger schon griesgrämig und des Wartens überdrüssig war.
»Ich bin's, Guido«, sagte Rizzardi.
Ohne sich seine Ungeduld anmerken zu lassen, fragte Brunetti bloß: »Und?«
»Zwei der Stichwunden waren tödlich: Beide streiften das Herz. Vermutlich war sie sofort tot.«
»Und der Mörder? Glaubst du immer noch, daß er klein war?«
»Nun ja, auf keinen Fall so groß wie du oder ich. Vielleicht ein bißchen größer als das Mädchen. Und Rechtshänder.«
»Heißt das, es könnte auch eine Frau gewesen sein?« fragte Brunetti.
»Ja, sicher, obwohl Frauen normalerweise nicht auf diese Weise töten.« Und nach kurzem Besinnen setzte der Pathologe hinzu: »Eigentlich morden Frauen sowieso eher selten, oder?«
Brunetti brummte zustimmend, auch wenn er sich im stillen fragte, ob
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