Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Barmherzigkeit.«
Der Conte kehrte den Lichtern draußen den Rücken und wandte sich wieder Brunetti zu. »Ich habe ihn mir angesehen, als er tot war. Sein Gesicht war rotzverschmiert und seine Brust voller Blut, und in dem Augenblick war der Krieg für mich zu Ende. Ich dachte nicht groß darüber nach, jedenfalls nicht in irgendeinem ethischen Sinn, aber ich wußte trotzdem, daß wir ein Verbrechen begangen, daß wir ihn ermordet hatten, nicht anders, als wenn wir ihn schlafend in seinem Bett, im Hause seiner Mutter gefunden und ihm die Kehle durchgeschnitten hätten. Es war nichts Rühmliches an dem, was wir taten, und vor allem war es absolut sinnlos. Am nächsten Tag erschossen wir noch drei. Beim ersten hatte ich mitgemacht und hielt es auch noch für gerechtfertigt. Aber danach, als ich zur Besinnung gekommen war, hatte ich trotzdem nicht den Mut, die anderen zurückzuhalten, aus Angst vor dem, was dann aus mir werden würde. Um also auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich bin durchaus nicht stolz auf das, was ich im Krieg getan habe.«
Der Conte leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch.
Er erhob sich. »Ich glaube, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Auch Brunetti stand auf, und aus einem Impuls heraus, der ihn selbst überraschte, trat er zu seinem Schwiegervater und umarmte ihn, hielt ihn minutenlang umfangen, ehe er sich abwandte und das Arbeitszimmer verließ.
17
P aola schlief schon, als er nach Hause kam, und obwohl sie für einen Moment die Augen aufschlug und wissen wollte, wie es mit ihrem Vater gegangen sei, war sie doch so benommen, daß Brunetti nur sagte, sie hätten lange miteinander geredet. Dann küßte er sie und ging nachsehen, ob die Kinder zu Hause und im Bett waren. Er betrat Raffis Zimmer, nachdem er leise angeklopft hatte, und fand ihn bäuchlings, wie ein riesengroßes X, auf seiner Matratze ausgestreckt. Ein Arm und ein Fuß hingen über die Bettkante. Brunetti überschlug das Erbe seines Sohnes: Ein Großvater war mit nur vier gesunden Zehen und seelisch gebrochen aus Rußland heimgekehrt, der andere hatte willig mitgeholfen, wehrlose Halbwüchsige hinzurichten. Er schloß die Tür und schaute hinüber zu Chiara, die in manierlicher Seitenlage unter unzerwühlten Decken schlief. Später im Bett dachte er noch eine Weile über seine Familie nach und schlief dann tief und fest.
Am nächsten Morgen ging er als erstes zu Signorina Elettra, deren Schreibtisch er von wahren Papierbastionen belagert fand.
»Sollte ich dieses Chaos vielversprechend finden?« fragte Brunetti, als er ihr Büro betrat.
»Wie sagte doch Howard Carter, als er endlich in Tutanchamuns Grab hineinschauen konnte: ›lch sehe wundervolle Dinge‹?«
»Aber Sie sehen vermutlich weder goldene Masken noch Mumien, Signorina«, versetzte Brunetti.
Wie ein flinker Croupier, der die Karten zusammenharkt, schob sie einige der Schriftstücke zu ihrer Rechten auf einen Stapel und klopfte sie gerade. »Werfen Sie mal einen Blick hier drauf: Ich habe die Dateien aus dem Computer des Mädchens ausgedruckt.« »Und ihre Kontoauszüge?« fragte er, während er sich einen Stuhl heranzog und sich neben sie an den Schreibtisch setzte.
Sie wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf die andere Seite des Schreibtischs. »Ach, genau wie ich vermutet hatte«, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. »Die Bank hat dem Fiskus die Eingänge nie gemeldet, und das Finanzamt hat es offenbar nie für nötig gehalten, bei der Bank nachzufragen.«
»Und das bedeutet?« fragte Brunetti, obwohl er es sich ziemlich gut vorstellen konnte.
»Am ehesten dürfte es wohl so gewesen sein, daß das Finanzamt sich einfach nicht die Mühe gemacht hat, ihre Angaben mit den Bilanzen der ausländischen Devisentransfers zu vergleichen.«
»Und gibt es eine Erklärung dafür?«
»Ich tippe auf Nachlässigkeit oder Bestechung.«
»Ist denn so was möglich?«
»Ich hab's Ihnen doch schon gesagt, Commissario: Wenn es um die Usancen der Banken geht, ist alles möglich.«
Brunetti beugte sich ihrer reichen Erfahrung und fragte nur: »War es schwer für Sie, sich diese Unterlagen zu beschaffen?«
»In Anbetracht der löblichen Diskretion der Schweizer Banken und der instinktiven Verlogenheit der unseren: schwerer als gewöhnlich.«
Brunetti, der um ihr weitverzweigtes Freundschaftsnetz wußte, ließ es dabei bewenden. Auch wenn ihm gar nicht wohl war bei dem Gedanken, was für Informationen man vielleicht eines Tages als
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