Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
sie dort recherchiert hätte.« Brunetti blätterte eine Seite zurück und las laut vor: »›lch mußte heute schon um neun in der Bibliothek sein, und du weißt, wie unleidlich ich so früh am Morgen bin - der reinste Menschenschreck.‹«
Brunetti ließ das Blatt sinken. »Komisch, nicht, diese Sorge, sie könnte in einer Bibliothek die anderen Leser verprellen?«
»Besonders, wenn sie zu Studienzwecken hinging. Was kümmerten sie da die Leute?« Auch wenn Signorina Elettras Einwurf eher rhetorisch gemeint war, gab er beiden zu denken.
»Wie viele Bibliotheken gibt's in Venedig?« fragte Brunetti plötzlich.
»Mal sehen... also die Marciana, die Querini Stampalia, die Universitätsbibliothek, dann die Stadtbüchereien und vielleicht noch eine Handvoll andere.«
»Versuchen wir unser Glück«, sagte Brunetti und griff entschlossen zum Telefon.
Genauso rasch zog Signorina Elettra die unterste Schreibtischschublade auf, nahm das Telefonbuch heraus und blätterte bis zu den Einträgen der »Comune di Venezia«. Eine nach der anderen telefonierte Brunetti die Stadtbüchereien in Castello, Canareggio, San Polo und auf der Giudecca durch, aber in keiner war eine Angestellte oder studentische Hilfskraft namens Claudia Leonardo bekannt. Und die gleiche abschlägige Antwort erhielt er von der Marciana, der Querini Stampalia und der Unibibliothek.
»Was nun?« fragte Signorina Elettra und klappte das Telefonbuch zu. Brunetti nahm es ihr aus der Hand und schlug unter »B« nach. »Haben Sie schon mal von der Biblioteca della Patria gehört?« fragte er.
»Der was?«
»Patria«, wiederholte er und las die Adresse vor. »Scheint irgendwo unten am Ende vom Sestiere Castello zu sein.«
Sie preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
Brunetti wählte die Nummer, und als eine Männerstimme sich meldete, fragte er, ob eine gewisse Claudia Leonardo in der Bibliothek beschäftigt sei. Der Mann, der einen leichten Akzent hatte, bat ihn, den Namen zu wiederholen, hieß ihn dann einen Moment warten und ging aus der Leitung. Kurz darauf meldete er sich wieder und fragte: »Wer spricht da, bitte?«
»Commissario Guido Brunetti«, antwortete er. »Und was ist nun mit Claudia Leonardo?«
»Ja, die hat hier gearbeitet«, sagte der Mann, ohne ihren tragischen Tod zu erwähnen.
»Und Sie sind?« erkundigte sich Brunetti.
»Maxwell Ford.« Als er seinen Namen nannte, verlor die Stimme des Mannes ihre angelernte samtigweiche italianità und verriet seine angelsächsische Herkunft. Brunettis forderndes Schweigen bewog ihn zu dem Nachsatz: »Ich bin Kodirektor der Biblioteca.«
»Und wo genau befindet sich Ihr Institut?«
»Ganz am Ende der Via Garibaldi, jenseits vom Rio di Sant' Anna.«
Brunetti kannte die Gegend, konnte sich aber nicht erinnern, dort je eine Bibliothek gesehen zu haben. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen«, sagte er.
»Selbstverständlich«, versetzte der Mann, dessen Stimme plötzlich viel freundlicher klang. »Geht es um den Tod dieses armen Mädchens?«
»Ja.«
»Eine schreckliche Geschichte. Wir waren tief betroffen.«
»Wir?« wiederholte Brunetti.
Eine kurze Pause, dann erklärte der Mann: »Das Personal hier in der Bibliothek.« Im Italienischen war sein Akzent kaum hörbar.
»Ich denke, ich kann in zwanzig Minuten dort sein«, sagte Brunetti und legte auf.
»Und?« fragte Signorina Elettra.
»Ich habe mit einem gewissen Signor Ford gesprochen. Er ist der Kodirektor der Bibliothek, trotzdem schien er zunächst nicht zu wissen, ob das Mädchen dort gearbeitet hat oder nicht.«
»Jeder wäre nervös, wenn man ihn nach jemandem fragt, der gerade ermordet wurde.«
»Mag sein«, sagte Brunetti. »Ich geh jedenfalls hin und rede mit ihm. Ach, was haben wir eigentlich über Guzzardi?«
»So einiges. Ich hole gerade Erkundigungen über verschiedene Häuser ein, die ihm noch gehörten, als er starb.«
Brunetti, der schon auf dem Weg zur Tür war, blieb stehen und drehte sich um.
»Waren es viele?«
»Drei oder vier.«
»Und was ist daraus geworden?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wie haben Sie denn davon erfahren?«
»Ich habe meinen Vater gefragt.« Sie war gespannt, was Brunetti dazu sagen würde, aber der hatte jetzt keine Zeit zum Plaudern: Er wollte Signor Ford nicht warten lassen. Ja, er bereute schon, daß er telefoniert und dem Bibliotheksdirektor seinen Besuch angekündigt hatte: Die Art, wie die Leute reagierten, wenn unerwartet die Polizei vor ihrer Tür stand, war oft
Weitere Kostenlose Bücher