Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Linken eine neue Aktentasche, ein Bottega-Veneta-Modell, wie Brunetti auf einen Blick sah.
»Ah, Brunetti«, rief Patta geschäftig, »ich habe in zwanzig Minuten eine Besprechung mit dem Pretore.« Brunetti, dem es völlig gleichgültig war, ob Patta zum Dienst kam oder nicht oder wie lange er sich im Büro aufzuhalten beliebte, staunte doch über den fast Pawlowschen Reflex, mit dem dieser Mann sich ständig durch irgendwelche Flunkereien absicherte: Ob Patta nach seiner Pensionierung womöglich eine zweite Karriere in der Politik anstrebte?
»Dann will ich Sie nicht aufhalten, Signore«, sagte er und trat beiseite, um seinen Chef vorbeizulassen.
»Sind schon Fortschritte zu verzeichnen im Fall... « Patta konnte sich offenbar nicht an Claudias Namen erinnern, und so fuhr er fort: »... also bei dem Mord an diesem jungen Mädchen?«
»Die Ermittlungen laufen, Signore«, sagte Brunetti.
Patta, der ungeduldig auf seine Uhr sah, antwortete mit einem zerstreuten »Gut, gut«, grüßte kurz und war auch schon zur Tür hinaus.
Brunetti war neugierig, was Signorina Elettra inzwischen herausgefunden hatte, zögerte aber, ihren Computer zu befragen: Wäre sie auf etwas Wichtiges gestoßen, dann hätte sie ihn sicher verständigt. Und bei ihrem Mißtrauen gegen einige Mitarbeiter der Questura hatte sie ihre Dateien sicher so gut verschlüsselt, daß ein Laie wie er ohnehin nicht hineingekommen wäre.
Also ging er wieder nach oben in sein Büro, nahm sich Claudias Akte vor und suchte die Telefonnummer ihrer Mitbewohnerin in Mailand heraus. Er wählte und hatte gleich darauf die Mutter des Mädchens am Apparat, die sich zwar bereit erklärte, ihre Tochter ans Telefon zu holen, ihm aber einschärfte, daß Lucia sich nicht aufregen dürfe. Sie werde vom Nebenanschluß aus mithören, betonte die Mutter.
Allein, das Gespräch verlief ergebnislos, denn Lucia erinnerte sich weder, ob Claudia je den Namen Filipetto erwähnt, noch ob sie irgendwann von einem Notar gesprochen habe. Da er wußte, daß die Mutter als stumme Zeugin in der Leitung war, fragte er Lucia nicht nach ihrem Befinden, und als sie sich erkundigte, wie es mit dem Fall vorangehe, konnte er nur sagen, daß sie selbst die kleinste Spur verfolgen würden und zuversichtlich auf baldige Fortschritte hofften. Auch wenn ihm jedesmal ganz elend zumute war, wenn er sich solche Platitüden absondern hörte.
Hinterher war er so frustriert, daß er sich zu nichts mehr aufraffen konnte. Also verließ er die Questura und machte sich über den Rialto auf den Heimweg. Aber statt wie gewohnt an Pieros Käsestand links abzubiegen, ging er geradeaus weiter nach Santa Croce hinein, Richtung Campo San Boldo, und machte nicht eher halt, als bis er vor Signora Jacobs Haus stand und bei ihr klingelte.
Er mußte lange warten, bis ihre tiefe Stimme fragte, wer da sei.
»Commissario Brunetti«, antwortete er. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich will nicht mit Ihnen reden.« Sie klang eher erschöpft als verärgert. »Aber ich muß mit Ihnen sprechen, Signora.« »Worüber?«
»Notaio Filipetto.«
»Wen?« fragte sie nach langer Pause.
»Notaio Filipetto«, wiederholte Brunetti ohne eine weitere Erklärung.
Um so überraschter war er, als er gleich darauf das elektrische Türschloß klicken hörte. Er stieß die Haustür auf und lief rasch nach oben, wo er sie wie trunken an den Türstock gelehnt fand.
»Danke, Signora«, sagte er, schob eine Hand unter ihren Ellbogen und führte sie in die Wohnung zurück. Diesmal achtete er weniger auf die Kunstwerke an den Wänden als auf die Frau an seiner Seite, und während er sie langsam zu ihrem Sessel geleitete, fiel ihm auf, wie schwach und zart ihr Körper war. Sie saß kaum, da langte sie auch schon nach den Zigaretten, aber ihre Hand zitterte so stark, daß drei Stück aus der Packung rutschten und zu Boden fielen, bevor es ihr gelang, sich eine anzustecken. Wie er sich daheim oft wunderte, wo das, was seine Kinder täglich in sich hineinfutterten, eigentlich blieb, rätselte Brunetti auch jetzt, da er die alte Frau so gierig inhalieren sah, in welchem Vakuum ihrer Lungen diese gewaltigen Rauchmengen wohl verschwinden mochten.
Ihm war, als wolle sie ihn etwas fragen, aber sie sagte kein Wort, bis sie die Zigarette aufgeraucht hatte und den Stummel in eine blaue Keramikschale warf, die schon zur Hälfte mit Kippen gefüllt war.
Da sie beharrlich weiterschwieg, ergriff Brunetti das Wort. »Signora, im Zuge unserer Ermittlungen sind
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